„Wenn die Menschen im sozialen Organismus erwachsen sein sollen, so werden sie freie Menschen sein müssen. - Frei wird man nur, wenn man zuerst als Kind möglichst intensiver Nachahmer war.“ Rudolf Steiner[1]
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Im vorangegangenen Beitrag „Die Erziehungsfrage und die zwei Seiten der Sozialen Dreigliederung“ ging es u.a. um die Frage, inwiefern ein gesundes Bildungswesen auf Freiheit angewiesen ist.
Freiheit und Gleichheit
Am 29. April 2021 erschien in der Zeitschrift „Das Goetheanum“ unter dem Titel „Impfpass: Ein Weg in die Freiheit oder in die geschlossene Gesellschaft?“[2] ein Beitrag von Michael Elsfeld, Professor für Philosophie an der Universität Lausanne, Mitglied der Leopoldina und der Deutschen Akademie der Wissenschaften. Anhand der sich unter dem Online-Beitrag befindlichen Kommentare wird sehr deutlich, dass sich die Verfasser der einzelnen Beiträge einerseits unterschiedliche Begriffe bzw. Vorstellungen zum Thema „Freiheit“ gebildet haben und es andererseits bezüglich der „Fakten“ zum Thema „Corona“ möglich erscheint, das eine wie das andere zu beweisen. Daran entzünden sich Diskussionen wie sie jeder tagtäglich erleben kann und in denen keine wirkliche Verständigung möglich wird. Für die einen ist die Krankheit so bedrohlich, dass sie die damit verbundenen staatlichen Maßnahmen als berechtigt, sinnvoll und notwendig erachten - sie erleben diese für sich persönlich sowie für alle anderen Menschen keineswegs als „freiheitsberaubend“. Für die anderen wird der Eingriff in die persönliche und allgemeine Freiheit als so massiv erfahren, dass sie in den jetzigen Verhältnissen einen Vorboten für einen möglichen totalitären Staat sehen.
Wir haben es hier u.a. mit zwei sich widerstrebenden Idealen, nämlich dem der Freiheit (jeder entscheidet individuell und eigenverantwortlich, was er zur Erhaltung seiner eigenen Gesundheit und der der anderen beiträgt) und dem der Gleichheit (durch staatliche Verordnungen und Gesetze wird geregelt, dass und wie alle sich einschränken und verzichten müssen, um Leben zu retten) zu tun haben. Die einen wollen dem Ideal der „Freiheit“ folgen, die anderem dem der „Gleichheit“ (aktuell auch „Solidarität“ genannt oder das neue „Wir“). Dieser Widerspruch scheint nicht auflösbar zu sein.
Erziehungsfrage als soziale Frage
In seinen im August 1919 gehaltenen Vorträgen „Die Erziehungsfrage als soziale Frage“ macht Rudolf Steiner darauf aufmerksam, dass das Kind einerseits alle Fähigkeiten zur Verwirklichung eines gesunden sozialen Organismus mitbringt, diese andererseits durch eine entsprechende Umgebung zukünftig immer bewusster ausgebildet werden müssen. Eine besondere Rolle spielen dabei die drei Ideale „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. [3] Nur wenn deren Anlagen im Kindesalter erkannt und berücksichtigt werden, sind wir im Erwachsenenalter in der Lage diesen Idealen nachzustreben und sie an ihrem jeweils berechtigten „Platz“ verwirklichen zu wollen. Auf diese Weise kann der soziale Organismus zukünftig geheilt werden.
Dass der Grundstein für unser ganzes weiteres Leben in unserer Kindheit und Jugend gesetzt wird, wird heute wohl niemand mehr ernsthaft bestreiten. Rudolf Steiner macht in den erwähnten Vorträgen darauf aufmerksam, dass bis zum Alter von ungefähr sieben Jahren die Grundlage dafür gelegt wird, dass wir als Erwachsene in der Lage sind, das Ideal der „Freiheit“ verwirklichen zu können. Wie ist das zu verstehen?
Von der Bedeutung des Erdenlebens
In der Waldorfpädagogik gehen wir davon aus, dass die Kinder aus der geistigen Welt auf diese Erde kommen. Der Grund dafür, dass sie sich hier mit einem irdischen, materiellen Kleid umgeben, sehen wir darin, dass sie auf der Erde etwas lernen können, sich in einer Art und Weise entwickeln können, die in der geistigen Welt nicht gegeben ist. Auf der Erde findet sich ein Lernfeld, eine lebenslängliche Schule, die es so in der geistigen Welt nicht gibt. Nachdem die Seele die „Schule“ auf der Erde absolviert hat, kehrt sie, bereichert und verändert, mit den Schätzen – den geistigen Schätzen - , die sie sich hier erworben hat, wieder in die geistige Welt zurück. Jedes Kind kommt auf die Erde und bringt dabei bestimmte Aufgaben, Vorsätze und Vorhaben, mit. Diese betreffen einerseits sein Karma, d.h. den Ausgleich für Taten in vergangenen Erdenleben, andererseits Aufgaben, die es hier mit seinen Fähigkeiten und Begabungen als seine Mission zu erfüllen sucht. Das eine hängt mit dem anderen innig zusammen, denn das Karma wird so ausgeglichen, dass es dem Wohle aller Menschen dienlich ist. Rudolf Steiner hat dies mehrfach in seinen Karmavorträgen anhand einzelner Biografien, so z.B. auch der des großen Pädagogen Pestalozzi, über mehrere Inkarnationen hinweg dargelegt.[4]
Vorgeburtliches Leben und Nachahmungsfähigkeit
Bevor das Kind auf die Erde kommt, hat es also in der geistigen Welt gelebt und gemeinsam mit den Hierarchien, hohen und höchsten Engelwesen, sein neues Karma, sein bevorstehendes Erdenleben ausgearbeitet. Wenn wir die ganz kleinen Kinder beobachten, innerlich wahrnehmen, dann können wir noch eine Ahnung davon erhalten, wie das Leben vor Empfängnis und Geburt für diese Seelen ausgesehen haben muss. Rudolf Steiner beschreibt es so, dass wir als Geistseele IN den uns umgebenden Wesenheiten leben. Wir sind eins mit den geistigen Wesenheiten um uns herum. Dieses EINSSEIN lebt das Kind weiter, wenn es dann geboren ist. Es ist voller Vertrauen und Hingabe an seine Umgebung. Da gibt es keinen Argwohn. Diese Fähigkeit in den Wesen seiner Umgebung zu leben ermöglicht ihm erst in den ersten Lebensjahren so viel zu lernen, wie nie wieder in seinem Leben. Es lernt gehen, weil die Menschen gehen, es lernt sprechen, weil die Menschen sprechen. Es lernt denken, weil die Menschen denken und ihre Gedanken äußern. So sehr ist das Kind noch in einer ähnlichen Verfassung, wie vor der Geburt, so intensiv die Hingabe und das Vertrauen in die Umgebung, dass es das, was es dort erlebt, nachahmt – bin hinein in die Ausgestaltung seines physischen Leibes.
Ausbildung der Nachahmungskraft
In dem bereits erwähnten Vortrag betont Rudolf Steiner, dass der Nachahmungsfähigkeit des Kindes eine Kraft zugrunde liegt. Er weist darauf hin, dass in Zukunft – ganz im Sinne der Bewusstseinsseele – zunehmend bewusster darauf geachtet werden müsse, dass sich diese naturgegebene Kraft gut entwickeln kann. Was bedeutet das, was können wir tun, damit sich diese Kraft optimal entwickeln kann? Wie aufgezeigt, hängt alles, was das Kind lernt, in hohem Maße von seiner Umgebung ab. Es hängt zunächst einmal von den Gedanken, Gefühlen und Handlungen der ihn umgebenden Menschen, aber auch von der Gestaltung der rein physischen Umgebung ab. Und je mehr die Umgebung sich so gestaltet, wie es das Kind vor der Geburt erlebt hat, um so stärker wird es sich damit verbinden können und damit auch seine Nachahmungskraft entwickeln können. Je mehr es in seinem Vertrauen, in seiner Hingabe bestärkt wird, je mehr die gesamte Umgebung von Geist durchzogen ist, umso eher kann es seine unendlichen Sympathiekräfte entfalten. Jede Kränkung, Zurückweisung, Unwahrhaftigkeit wirkt schwächend auf das Kind, auch das sind Erkenntnisse, die heute niemand mehr ernsthaft anzweifelt. So wird ein Kind, das eigentlich zunächst ganz in seiner Umgebung leben möchte, z.B. durch Traumatisierungen ganz auf sich selbst zurückgeworfen und bleibt dadurch in seiner Entwicklung zurück.
Nachahmungskraft und Freiheit
Wie aber hängen nun die ersten Lebensjahre mit dem Ideal der „Freiheit“ des erwachsenen Menschen zusammen? Das kleine Kind tut, wenn es gesund ist, doch zunächst all das mit, was in seiner Umgebung vor sich geht. Von Freiheit kann diesbezüglich gar nicht die Rede sein, im Gegenteil. Es ist ja total abhängig von seiner Umgebung und das soll auch noch in gesunder Weise gefördert werden?!
Im ersten Jahrsiebt ist das Kind in erster Linie ein tätiges, wollendes Wesen, es ist durch und durch ein „Bewegungsmensch“ und entwickelt sich als ein solcher. Damit es dies kann, müssen ihm – neben der Anregung durch die ihn umgebenden Menschen - Bewegungsfreiräume geboten werden, in denen es z.B. das Gehen erlernen und anschließend seine gesamte Bewegungsfähigkeit weiter ausbilden kann. Der Säugling ist zunächst noch völlig von unterschiedlich Reflexen (Saugreflex, Greifreflex etc.) bestimmt und erobert sich erst im Laufe der Zeit durch Nachahmung seine Bewegungsfreiheit. Die zwingenden „Reflex-Bewegungen“ werden überwunden und innerlich ein Gefühl von Freiheit erfahren, das sich noch ganz an das leibliche Erleben anknüpft. Jeder, der einmal das Glück hatte mitzuerleben, wie ein Kind in Auseinandersetzung mit der Schwerkraft seine ersten freien Schritte tut, wird dieses Erlebnis an dem so erfüllten, freudigen Gesichtsausdruck des Kindes mitgefühlt haben.[5]
Diese Metamorphose der Nachahmungsfähigkeit in die Fähigkeit zur Freiheit zeigt sich auch noch auf andere Weise. Selbstverständlich emanzipiert sich das nachahmende Kind im Laufe der Entwicklung zunehmend von seiner Umgebung. Wenn wir ein vier- oder fünfjähriges Kind beim phantasievollen Spiel beobachten, dann können wir erkennen, dass es sich mit inneren Bildern und Vorstellungen beschäftigt, die auf seinen bisherigen Erfahrungen beruhen, die es aber völlig frei handhabt und schöpferisch gestaltet. Das Kind ist versunken in sein Spiel, es befindet sich in einem Zustand, den wir Erwachsenen als „Flow“ bezeichnen, einem Zustand der Leichtigkeit und Freiheit, des innerlichen Erfülltseins und einer tiefen Freude. Wie unangenehm für ein Kind, wenn es aus diesem Prozess plötzlich herausgerufen wird, weil man aufbrechen muss, weil es Essen gibt oder ähnliches. Wer später eine Arbeit findet, in der er sich so erleben darf, so freudvoll und innerlich zufrieden wie das kleine Kind im Spiel, der fühlt sich frei in seiner Tätigkeit, der arbeitet gerne für andere Menschen, der erlebt individuelle Freiheit während er sich in das äußere soziale Leben eingliedert. Wenn dieses Eingliedern mit den inneren vorgeburtlichen Impulsen zusammenhängt, aber auch den eigenen Fähigkeiten und Begabungen entspricht, dann erfahren wir uns wieder ähnlich schöpferisch wie das Kind im Spiel. Rudolf Steiner benutzt im Zusammenhang mit dieser Metamorphose der Nachahmungskräfte auch den Begriff der „Sozialen Freiheit“ [6] des Erwachsenen.
Erst in einem Freien Geistesleben entsteht der Raum, wo der Mensch seine Begabungen und Fähigkeiten, heute auch Potenziale genannt, entdecken und entwickeln kann. Um diesen Raum als Erwachsener überhaupt zu suchen, um überhaupt die Sehnsucht, das Streben nach dieser Art „Freiem Spielraum“, entwickeln zu können, ist das Erlebnis des freien Spiels, das noch ganz aus der Nachahmung der Mitwelt erfolgt, die beste Grundlage. Daher ist es so wichtig, dass einerseits die Umgebung so gestaltet ist, dass das Kind sie vertrauensvoll nachahmen kann und andererseits – bis in das Schulalter hinein! - genügend Zeit zum Freien Spiel bleibt. Viel Rhythmus, aber wenig Programm!
Bedeutung eines Freien Geisteslebens
„Wenn die Menschen im sozialen Organismus erwachsen sein (Hervorhebung d. Verf.) sollen, so werden sie freie Menschen sein müssen. - Frei wird man nur, wenn man zuerst als Kind möglichst intensiver Nachahmer war.“[7] „Erwachsen sein“ bedeutet Verantwortung übernehmen zu können. Freiheit und Verantwortung gehören zusammen, können jedoch Angst machen. Wenn ich selbst die Verantwortung für meine Taten übernehme, und das tue ich, wenn ich aus individueller Freiheit handle, dann übernehme ich auch die moralische Verantwortung für mein Tun. Dann bin ich ganz auf mich gestellt, dann kann ich niemanden sonst für mein Handeln verantwortlich machen. Auf die Spitze der eigenen Persönlichkeit gestellt zu sein, kann einen Abgrund unter den Füßen eröffnen. Dann sehnt sich der Mensch nach Sicherheit. So wie das Kind eine sichere Umgebung benötigt, um nachahmend lernen und schöpferisch spielen zu können, benötigt der erwachsene Mensch eine andere Art der Sicherheit, eine innere Sicherheit. Eine Sicherheit, die er nicht im anderen Menschen findet, auch nicht in menschlichen Gesetzen und Verordnungen, sondern nur in dem geistigen Grund, auf dem er steht. Um diesen geistigen Urgrund des Vertrauens in sich suchen und finden zu können, ist eine Sicherheit und Vertrauen vermittelnde menschliche Umgebung im 1. Jahrsiebt als Erfahrung so sehr heilsam und hilfreich für das spätere Leben.
Freies Geistesleben kann vor diesem Hintergrund auch so verstanden werden, dass der Erwachsene in diesem Raum bewusst die Beziehung zum Geist, zur geistigen Welt suchen und pflegen kann, wie etwa in der Kunst, der Religion, der Geisteswissenschaft (Anthroposophie).
[1] Rudolf Steiner, Die Erziehungsfrage als soziale Frage, 1. Vortrag vom 9. August 1919, GA 296, S. 19 [2] https://dasgoetheanum.com/impfpass-ein-weg-in-die-freiheit-oder-in-die-geschlossene-gesellschaft/ [3] Rudolf Steiner, Die Erziehungsfrage als soziale Frage, 1. Vortrag vom 9. August 1919, GA 296 [4] Anmerkung: Rudolf Steiner schildert diese Inkarnationsreihe in GA 236, S. 48ff und GA 239, 264 ff. [5] Anmerkung: Es gibt zunehmend mehr Schulkinder, die z.B. die frühkindlichen Reflexe noch nicht überwunden haben, dadurch in ihrer Entwicklung und dem Lernen beeinträchtigt sind. Dem versucht man z.B. mit entsprechenden Therapien zum Reflexabbau entgegen zu wirken. [6] Rudolf Steiner, Die Erziehungsfrage als soziale Frage, 1. Vortrag vom 9. August 1919, GA 296, S. 19 [7] Rudolf Steiner, Die Erziehungsfrage als soziale Frage, 1. Vortrag vom 9. August 1919, GA 296, S. 19
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