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AutorenbildAntje Bek

Die Göttlichkeit des Denkens und künstliche Intelligenz


Achter Vortrag vom 10. Oktober 1922[1]

Rudolf Steiner, Pädagogischer Jugendkurs[2]


Vorbemerkung: Vor hundert Jahren sprach Rudolf Steiner in Stuttgart vor jungen Menschen, die zum größten Teil mit der Anthroposophie nicht vertraut waren. Worüber er damals sprach, scheint heute aktueller und brennender denn je zu sein. Daher habe ich mich entschlossen, eine kleine Serie zu beginnen. Je Beitrag möchte ich in der entsprechenden Reihenfolge auf einen der dreizehn Vorträge Rudolf Steiners eingehen. Es werden jeweils nur ausgewählte Gesichtspunkte der Vorträge behandelt, die in mir besondere Resonanz gefunden haben. Mit ist durchaus bewusst, dass dadurch andere wesentliche Gesichtspunkte nicht berücksichtigt werden. Wenn sich Menschen angeregt fühlten, dann selbst den erwähnten Vortrag zu lesen, wäre es mir eine große Freude! Den Link zum Vortrag findet man unten.


Innere Geschichte der Menschheit

Im achten Vortrag vor Studierenden sowie Pädagogen der ersten Waldorfschule schlägt Rudolf Steiner noch einmal einen großen historischen Bogen. Er macht darauf aufmerksam, dass wir mit „Geschichte“ lediglich die äußere Geschichte der Menschheit meinen und erfassen, wie wir sie an noch vorhandenen Dokumenten festmachen können. Die innere Geschichte der Menschheit, ihre seelische Entwicklung wird nicht gelehrt. So, wie jedes Kind sich nicht nur äußerlich sichtbar entwickelt, sondern ihm je nach Lebensalter andere Seelenkräfte im Denken, Fühlen und Handeln (Wollen) zur Verfügung stehen, so hat sich auch die Menschheit in dieser Hinsicht entwickelt.


Gedanken als Offenbarungen der geistigen Welt

Bereits in den vorangegangenen Vorträgen ist Rudolf Steiner auf diesen Gesichtspunkt eingegangen, gleich im 1. Vortrag erwähnte er die „geschlossenen Fensterläden“[3], die der Menschheit einen Blick in die geistige Welt gänzlich unmöglich gemacht haben. Im 8. Vortrag beschreibt er nun, wie sich das Verhältnis der Menschheit zur Welt der Gedanken entwickelte und veränderte, was schließlich dazu geführt hat, dass viele Menschen heute eine tiefe Abneigung, einen regelrechten Widerwillen gegen das Denken und die Gedankenwelt haben, weil sie dort nichts mehr von dem finden, was sie selbst in früheren Verkörperungen noch als starken Impuls und Gewissheit erlebt haben.


Bis in das 4. Jahrhundert hinein war es für die Menschen Gewissheit, dass Gedanken Offenbarungen aus der geistigen Welt sind, die dem Menschen aus dieser Welt zukommen. Besonders empfänglich dafür waren die Eingeweihten der Mysterienstätten, die es einst gab. Sie übermittelten die aus der geistigen Welt heraus empfangenen Gedanken an die übrige Menschheit weiter, für die es außer Frage stand, dass die überbrachten Gedanken aus der göttlichen Welt geoffenbart waren. Im Mittelalter traten erste Fragen, Zweifel und Streit darüber auf, woher die Gedanken denn nun tatsächlich stammen. Den einen waren sie empfindungsmäßig noch Realitäten, deren Ursprung die geistige Welt war, die anderen vertraten die Ansicht, dass Gedanken nur in der menschlichen Individualität leben. Ein Beispiel möge das verdeutlichen: Das Wort „Hund“ stellt einen Begriff dar, der alle unterschiedlichen Hunde in einem zusammenfasst. Für die Vertreter der einen Geistesrichtung lag in diesem Begriff eine geistige Realität, die vom Menschen wahrgenommen wurde, wie ein Sinneseindruck in der physischen Welt wahrgenommen werden kann. Für die anderen war es lediglich eine Zusammenfassung all dessen, was die verschiedenen menschlichen Individualitäten über Hunde wissen können.


Gedanken als Produkte des Gehirns

Und heute? Heute erleben wir Gedanken in keinem Zusammenhang mehr mit der geistigen Welt, wir erleben uns selbst mit großer Gewissheit als diejenigen, die die Gedanken hervorbringen, wir haben uns unsere Gedanken selbst erarbeitet. Die Götterwelt hat unsere Gedanken verlassen. Und so dunkel dieser Moment in der Menschheitsgeschichte auch ist und erlebt wird, er ist gleichzeitig der Augenblick, in dem wir zur wahren Freiheit kommen können! Es hängt nämlich nun von uns selbst ab, ob wir uns die „Göttlichkeit des Denkens erobern“[4]. Wollen wir uns diese Göttlichkeit, diese Schöpferkraft des Denkens erobern? Warum sollten wir das tun? Ist es denn überhaupt notwendig? Hat denn der Widerwille gegen das, was sich da ständig in unserem Gehirn als „Geplapper“ abspielt, nicht auch seine Berechtigung? Warum spricht Rudolf Steiner damals vor den Studierenden überhaupt so ausführlich und immer wieder über das Denken?


Maschinendenken

Ich meine, heute können wir das noch deutlicher erkennen als damals: Die Menschheit hatte bereits den Weg durchgemacht vom Erleben der geistig-göttlichen Gedankenwelt, für die der Mensch lediglich der Empfänger war, zu einem Denken, das tatsächlich nur vom Menschen, genauer vom menschlichen Gehirn hervorgebracht wird. Rudolf Steiner hatte im dritten Vortrag des Jugenkurses[5] darauf hingewiesen, dass die Wissenschaft diesbezüglich Recht hat: Das Denken, so wie es sich heute zeigt, ist lediglich ein Produkt des Gehirns. 100 Jahre später sind wir noch einen Schritt weiter, wir kennen auch das „Denken“, das das Produkt einer Maschine ist – die künstliche Intelligenz. In ihren Anfängen haben wir alle bereits jetzt mehr oder weniger tagtäglich damit zu tun. („Alexa“, „Siri“, „Bots“ ...) Dieses „Denken“ wird sich so weiter entwickeln, dass es äußerlich nicht mehr von einem menschlichen Denken zu unterscheiden ist – abgesehen davon, dass es ihm überlegen sein wird. So schreibt Ray Kurzweil, der 2015 u.a. ein Buch zum „Geheimnis des menschlichen Denkens“[6] geschrieben hat und der künstlichen Intelligenz spätestens ab 2023 eine glänzende Zukunft voraussagt, in seinem 1999 erschienenen Buch „The Age of Spiritual Machines“ (Das Zeitalter der spirituellen Maschinen) „Sie (diese Maschinen, Anm. d. Verf.) werden zunehmend den Anschein einer eigenen Persönlichkeit haben, Reaktionen zeigen, die wir nur als Emotionen bezeichnen können, und ihre eigenen Ziele und Absichten artikulieren. Sie werden den Anschein erwecken, ihren eigenen, freien Willen zu haben. Sie werden behaupten, dass sie spirituelle Erfahrungen haben. Und die Menschen werden ihnen glauben.[7]


Zukunft der Menschheit

Die Zukunft der Menschheit wird davon abhängen, ob wir uns die „Göttlichkeit des Denkens“ erobern oder ob wir uns den „Gedanken“, „Gefühlen“ ,dem „freien Willen“ und der „Spiritualität“ von Maschinen überlassen. Wenn wir den Unterschied zwischen menschlichem Denken und Maschinendenken nicht mehr erkennen, dann wird das letztere uns beherrschen, das „Denken“ der Maschinen wird uns sagen, wie wir zukünftig die Menschheitsprobleme und -aufgaben zu lösen haben und das wird man dann „wissenschaftlich“ nennen können, wenn man es nicht gar als der Wissenschaft überlegen bezeichnen wird. In diesem Moment werden uns die Götter endgültig verlassen haben. Es soll ausdrücklich hinzugefügt werden, dass all diese Erscheinungen notwendig mit zur Freiheit gehören, die uns als Menschheit nun zur Verfügung steht. Wie vieles andere auch, hat Rudolf Steiner das in gewissem Sinne voraus gesehen.


Erobern der Göttlichkeit des Denkens

Um zur künstlichen Intelligenz ein Gegengewicht zu schaffen, benötigt es heute die Aktivität und den Willen jedes einzelnen Menschen. Darauf geht Rudolf Steiner im achten Vortrag des Jugendkurses ein. Unser gehirngebundenes Denken, das u.a. den ganzen Tag „plappert“, was manche Menschen auch etwas abfällig als unseren „Verstand“ bezeichnen, hat einen durch und durch passiven Charakter. Dazu sagt er an anderer Stelle:


„Wir sind ja mit unserem passiven Denken ganz - ich möchte sagen wie Menschensklaven - hingegeben an die Ereignisse der Welt.“[8] Die Ereignisse der physischen Welt verlaufen in einem „Vorher“ und „Nachher“, was eine unmittelbare Auswirkung auf die Art und Weise hat, wie wir unsere Gedanken bilden. „Ich habe schon gestern gesagt: Wir denken auch im Gedankenbilden das Frühere früher, das Spätere später.“[9]


Und diese Hingabe i.S. von Passivität „lieben“ wir in gewisser Weise, sonst übten Filme und überhaupt alle digitalen Medien nicht eine solche Anziehungskraft auf uns aus. Wieder soll betont werden, dass es nicht darum geht, die erwähnten Dinge zu verurteilen, sondern sie einfach anzuschauen. Dieser Gesichtspunkt macht verständlich, warum es viele Menschen als zu schwierig empfinden sich mit Anthroposophie, mit der Geisteswissenschaft zu beschäftigen, weil das eben ein aktives Denken erfordert und unser gewöhnliches, vom Gehirn hervorgebrachtes Denken, dazu nicht ausreicht. Rudolf Steiner spricht davon, „dass es oft zum Verzweifeln in dieser Beziehung“[10] ist. Die Göttlichkeit des Denkens – im ganz deutlichen Gegensatz zum Maschinendenken – lässt sich nur durch eigene Aktivität erobern, die sich in völliger Freiheit als innerer Impuls entwickeln kann. Zu den Studenten: „Sie kommen eben mit demjenigen, was in der Geisteswissenschaft lebt, nicht mit, wenn nicht jener Funke, jener Blitz einschlägt, durch den das Denken voller Aktivität wird.“[11]


Bedeutung der Geisteswissenschaft

Welchen Sinn aber kann es machen, Geistes-Wissenschaft zu studieren? Besteht dazu überhaupt eine Notwendigkeit? So viele Menschen haben doch inzwischen spirituelle Erlebnisse, meditieren, einige machen Nahtoderfahrungen, kommunizieren mit Verstorbenen, mit Elementarwesen oder Engeln. Reicht das nicht? Sicherlich sind das wichtige, bedeutende Erfahrungen und Botschaften, sie können dem Einzelnen Gewissheit über die Existenz einer geistigen Welt verschaffen und ihre Mitteilung in Menschen Mut zum Leben erwecken. All das soll in seiner Bedeutung in keinster Weise unterschätzt werden!


Welche Bedeutung die Geisteswissenschaft – nicht nur für unser persönliches Leben, aber gerade auch dafür! - haben kann, lässt sich erkennen, wenn wir auf die Lebensfelder schauen, die durch die Anthroposophie neu impulsiert wurden (z.B. Pädagogik, Landwirtschaft, Medizin etc.), wir können sehen wie diese Wissenschaft dort durchgreifende Impulse setzte, die dem Leben dienlich sind. Nach 100 Jahren trägt der Impuls, der damals von Rudolf Steiner ausging, in vielen Institutionen nicht mehr weiter. Jetzt kommt es tatsächlich auf jeden Einzelnen von uns an. Aber jeder Einzelne kann eben auch etwas tun. Wir könnten damit beginnen, unser Denken zu aktivieren, Willenskraft in unser Denken zu schicken und dadurch die Fensterläden langsam wieder zu öffnen. Wie das mit Hilfe einer einfachen Übung praktiziert werden kann und wie diese Übung auch für Kinder genutzt werden kann, soll nun zum Abschluss angeführt werden:


Übung zur Aktivierung des Denkens

"Macht die Fensterladen auf!"[12]


Rudolf Steiner führt in einer Vortragsreihe, die er 1923 in England hielt[13], zur Befreiung des Denkens aus dem oben erwähnten „Sklaventum“ folgendes aus: „Wir stellen rückwärts vor. So verläuft die Welt nicht. Wir müssen eine bedeutende, rein aus dem Innern herausgeholte Kraftanstrengung vollbringen, um rein rückwärts vorzustellen. Dadurch reißen wir die innere Tätigkeit unserer Seele los von dem Gängelbande, an dem wir sonst fortwährend gezogen werden, und dadurch bringen wir dieses innere geistig-seelische Erleben allmählich bis zu jenem Punkt, wo sich das Geistig-Seelische wirklich losreißt vom Körperlichen und auch vom Ätherischen.“[14] Wir können im Laufe der Zeit eine Aktivität im Denken erleben, die nicht vom Gehirn hervorgebracht wird, und schließlich ein von der Bindung an den lebendigen physischen Leib befreites Denken[15] – das aber jetzt nicht an die tote Maschine gefesselt wird!


Nun konkretisiert er die Übung, die man täglich am Abend machen kann: „Vorbereiten kann sich gut der Mensch zu einem solchen Losreißen, wenn er in der Lage ist, jeden Abend seine Tageserlebnisse rückwärts vorzustellen, dasjenige zuerst vorzustellen, was man zuletzt erlebt hat, dann rücklaufend, aber womöglich auch die Einzelheiten rücklaufend vorzustellen, so daß man, wenn man eine Treppe hinaufgestiegen ist, zuerst sich vorstellt oben auf der obersten Stufe, dann auf der vorletzten, dritten und so weiter rückwärts hinuntergehend sich vorstellt dasjenige, was man hinaufgehend vollbracht hat. Sie werden sagen: Man erlebt so viel am Tage, das dauert lange. Nun, man mache zunächst episodisch wirklich das zunächst, daß man das Hinauf- und Hinuntergehen über eine Treppe umgekehrt vorstellt: Hinunter- und Hinaufgehen; dann bekommt man eine innere Beweglichkeit, so daß man nach und nach wirklich in drei, vier Minuten den ganzen Tagesverlauf des Lebens rückwärtsbewegend vorstellen kann.“[16]


Jeder, der diese Übung macht, wird die innere Kraftanstrengung erleben, die er dafür aufbringen muss. Und man wird ebenso erleben können, dass diese Kraft in unserem gewöhnlichen Leben selten gefordert wird. Wer dadurch aufmerksam wird auf die eigene Aktivität im Denken, wird bemerken können, dass der Umgang mit den digitalen Medien eine derartige Aktivität vollständig ablähmen kann. Daher ist diese Übung, gerade auch dann, wenn man viel mit Computertätigkeit beschäftigt ist, ein guter Ausgleich.


Rudolf Steiner hat sie in etwas einfacherer Form übrigens auch für Kinder vorgeschlagen, die Mühe damit haben, sich zu erinnern. Man kann einen einfachen Satz nehmen, ihn zunächst vorwärts sprechen (und ggf. gehen lassen), dann rückwärts sprechen lassen: „Die Blume wächst im Garten. – Garten im wächst Blume die.“ Auch Zahlenreihen eignen sich dafür, z.B. 4 – 6 – 7 – 3 und dann 3 – 7 – 6 – 4 oder kleine Gedichte etc. Der eigenen Phantasie sind diesbezüglich keine Grenzen gesetzt.



 

[1] Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation, Pädagogischer Jugendkurs, Dreizehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 3. bis 15. Oktober 1922, GA 217, S. 114 - 127 [2] Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation, Pädagogischer Jugendkurs, Dreizehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 3. bis 15. Oktober 1922, GA 217 [3] siehe dazu auch: Antje Bek, Macht die Fensterladen auf! [4] Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation, Pädagogischer Jugendkurs, Dreizehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 3. bis 15. Oktober 1922, GA 217, S. 126 [5] s. dazu Antje Bek, Trockene und eisige Gegenwartskultur - Wiederbelebungsversuche [6] Ray Kurzweil, Das Geheimnis des menschlichen Denkens: Einblicke in das Reverse Engineering des Gehirns, Berlin 2015 [7] zit. nach https://uncutnews.ch/unerhoert-unheilig-ungesehen-ai-chatbots-kolonisieren-unsere-koepfe/ [8] Rudolf Steiner, Initiationserkenntnis, Die geistige und physische Welt- und Menschheitsentwickelung in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, vom Gesichtspunkt der Anthroposophie, GA 227, S. 60 [9] ebd. [10] Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation, Pädagogischer Jugendkurs, Dreizehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 3. bis 15. Oktober 1922, GA 217, S. 126 [11] ebd. S. 125

[12] siehe dazu auch: Antje Bek, Macht die Fensterläden auf! [13] Rudolf Steiner, Initiationserkenntnis, Die geistige und physische Welt- und Menschheitsentwickelung in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, vom Gesichtspunkt der Anthroposophie, GA 227

[14] siehe dazu auch: Gunter Gebhard, „Lebendiges Denken“ - „Leibfreies Denken“ - eine Gedankenskizze, [15]Rudolf Steiner, Initiationserkenntnis, Die geistige und physische Welt- und Menschheitsentwickelung in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, vom Gesichtspunkt der Anthroposophie, GA 227 S. 60

[16] ebd., S. 60 f. Foto: Possessed Photography /Unsplash




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