Freie Entscheidungen und Willensschwäche
Eine kleine Übungsreihe für Erwachsene, Jugendliche und Kinder zum Thema: Stress und Selbstbestimmung - Teil 2
Wie bei der Übung „Nichts-Tun“, die im vorangegangenen Beitrag[1] erläutert wurde, geht es auch in der folgenden Übung in erster Linie um die Stärkung des eigenen Willens im Sinne der Selbstbestimmung. Durch die bereits beschriebene Übung, einmal das zu unterlassen, wozu ich mich gedrängt fühle, was als (spontaner) Wunsch in mir aufsteigt, ist es möglich zu erleben, dass die Impulse, die mich zum Handeln treiben, nicht immer aus dem Zentrum meines Wesens stammen, sondern Einflüssen vielfältiger Art unterliegen, die ich nicht immer gleich durchschaue.
Schwerwiegende Lebensentscheidungen treffen
Nehmen wir nun eine andere Situation. Es kann vorkommen, dass man vor schwierigen, bedeutenden Lebensentscheidungen steht: Soll ich meinen Job, der mir schon lange keine wirkliche Freude mehr bereitet, verlassen? Soll ich eine Beziehung, die ich als schwierig erlebe, beenden oder weiterführen? Soll ich einen Umzug in eine mir völlig unbekannte Umgebung wagen? Soll ich diese Behandlung einer (schweren) Erkrankung eingehen oder nicht? Alles das sind schwerwiegende Entscheidungen, die nicht so leicht getroffen werden können. Wie komme ich da zu einer richtigen Entscheidung? Man wird in diesen Fällen sicherlich den Rat anderer Menschen suchen.
Generelle Entscheidungsschwäche
Es kann aber auch sein, dass man als Mensch generell nicht so gerne eigene Entscheidungen trifft und sich lieber von anderen Menschen sagen lässt, was man tun soll. Das kann sich sowohl auf berufliche als auch auf private Belange beziehen. Solche Menschen werden dann für ihr berufliches und privates Leben u.U. nach Coaches suchen, sei es über Videos im Internet oder durch einen persönlichen Coach, dem sie vertrauen und folgen.
Wirkung der Willensstärke anderer Menschen
Nun kann es sowohl im ersten Fall, also einer schwerwiegenden Entscheidung, als auch im zweiten Fall, also einer generellen Entscheidungsschwäche, so sein, dass man verschiedene Ratschläge erhält. Der eine sagt einem etwa, man solle die Arbeitsstelle wechseln, der andere rät einem davon ab. Was wird ein Mensch tun, der in sich selbst die Stärke für eine selbstbestimmte Entscheidung nicht ausgebildet hat? Er wird den Ratschlag des Menschen umsetzen, der auf ihn mit seinem Willen stärker gewirkt hat. Er wird z.B. einer Behandlung, die der Arzt für richtig hält, letztlich zustimmen, weil dieser für ihn eine größere Autorität ist als etwa der Freund, der ihm davon abrät. Der Wille des Arztes hat schließlich stärker auf ihn gewirkt als der Wille des Freundes.
Zwei Coaches in sich selbst entdecken
So hilfreich es sein kann, sich unterschiedliche Meinungen und Ratschläge anzuhören, so entscheidend ist für die Selbstbestimmung, d.h. für die Führung des „Ich“ im eigenen Leben, dass es die Stärke gewinnt, seine eigene Entscheidung zu finden und zu treffen. Oft hat man bezüglich der anstehenden Entscheidungen bereits gewisse Sympathien oder Antipathien ausgebildet. Etwa: Am liebsten würde ich jetzt kündigen und etwas Neues anfangen. Auf der anderen Seite wirken Ängste im Untergrund: Was wird dann aus mir? Finde ich etwas Neues? Wie verdiene ich mein Geld etc.
Man kann nun die beiden Ratgeber oder Coaches, die es in der Außenwelt geben mag, in sich selbst finden und beleben. Man kann sich nämlich hinsetzen und zunächst einmal aufschreiben, was alles für eine bestimmte Entscheidung spricht. Also, was spricht denn dafür, dass ich meine Arbeitsstelle kündige? Vielleicht möchte man das auch am liebsten tun, eigentlich ist die Entscheidung schon gefallen und man wird viele Gründe finden, die dafürsprechen. Und nun macht man innerlich eine Wendung, etwas, was einem zunächst einmal gar nicht so sympathisch erscheinen mag. Man überlegt sich nun, was denn dagegenspricht. Was spricht gegen die Kündigung, die ich eigentlich doch am liebsten will. Auch das schreibt man auf. Nun hat man die beiden unterschiedlichen Coaches in sich selbst geweckt. Und dann kann man schauen, wer ist denn in mir stärker: Der, der dafürspricht oder der, der dagegenspricht. Dann folgt man nicht dem Willen eines anderen, sondern seinem eigenen Willen.
Gesundheitliche Situation berücksichtigen
Wichtig ist jedoch, dass man sich vorher fragt, ob man das Ergebnis dieser Übung auch umsetzen wird, ob man dazu die Kraft haben wird. Nehmen wir an, ein Burnout hat zur Frage nach dem Wechsel des Arbeitsplatzes geführt, dann steht man nicht wirklich in seiner Kraft, u.U. tut man dann trotz der vorherigen Übung nichts, aber nicht, weil man sich dafür entschieden hat, sondern weil man einfach die Kraft nicht hat, die Entscheidung im Leben durchzutragen. In diesem Falle würde die Übung eher zur Schwächung des Willens führen als zu dessen Stärkung. Daher wartet man mit solch schwerwiegenden Entscheidungen lieber, bis man gesundheitlich wieder auf der Höhe ist.
Übung für den Alltag
Man kann diese Übung aber nicht nur in besonderen Situationen des Lebens anwenden, sondern im Prinzip ständig im Alltag. Bei jeglicher Handlung, die ich ausführe, lassen sich immer auch Gründe finden, warum ich sie unterlassen kann oder sollte. So ist es auch mit jeder Äußerung, jedem Statement, das ich abgebe. Es gibt nichts, wofür sich nicht auch gegensätzliche Gesichtspunkte finden ließen. Durch diese Übung kann ich zu dem, was ich sage und tue ein anderes Verhältnis finden, dadurch kann das, was ich sage und tue, eine andere Kraft und Stärke gewinnen.
Übung für Kinder?
Wie kann diese Übung nun für Kinder verwandelt werden? Jeder, der mit offenem Blick auf jüngere Kinder schaut, wird bemerken, dass ein Kind zu dem beschriebenen Abwägen seiner Handlungen und Äußerungen nicht in der Lage ist. Kinder handeln und äußern sich spontan, je jünger sie sind, umso spontaner aus ihren momentanen Impulsen heraus. Abzuwägen, was dafür oder dagegen spricht, widerspricht der kindlichen Natur. Daher ist diese Übung für Kinder nicht geeignet. Sie profitieren allerdings davon, wenn ihre Eltern und die Erwachsenen in ihrer Umgebung diese Übung machen, auch bezüglich ihres Umgangs mit den Kindern.
Übung für Jugendliche
Allerdings können Jugendliche diese Übung in etwas abgewandelter Form durchaus durchführen. Rudolf Steiner hat immer mal wieder in Konferenzen mit den Lehrern der ersten Waldorfschule über das Thema Hausaufgaben gesprochen. Interessant sollten sie sein und freiwillig, sodass die Kinder und Jugendlichen sie von sich aus gerne bearbeiten. Für Jugendliche (ab ca. 13 Jahren) schlug er zwei aufeinander folgende Themenstellungen vor, die ich auf die aktuelle Zeit hin umformuliere[2]:
· Künstliche Intelligenz – Eine Zeugin der menschlichen Stärke
und daran anschließend
· Künstliche Intelligenz – Eine Zeugin der menschlichen Schwäche
Jeder wird schon bei sich selbst bemerken, welches dieser Themen ihn mehr anspricht. Ist man begeistert von der künstlichen Intelligenz, wird man sich mit Freude auf das erste Thema „stürzen“. Davon ist bei Jugendlichen zunächst einmal auszugehen. Ist man skeptisch gegenüber der künstlichen Intelligenz, geht man mit Befürchtungen um, dann wird einem eher das zweite Thema gefallen. Worauf es aber ankommt, ist die innere Wendung, die man vollzieht, dass man nicht – mehr oder weniger unbewusst – seinen Sympathien oder Antipathien folgt, sondern einen anderen als den eigenen Blickwinkel einnehmen kann.
Bemerkenswert ist zudem, dass es bei diesen Fragestellungen nicht um „Erörterungen“ im üblichen Sinne geht, also, was spricht für und was spricht gegen künstliche Intelligenz. Es geht letztlich um den Menschen, nämlich um dessen Stärken und Schwächen. Wie leicht sehen wir selbst, wie leicht sehen Jugendliche in einem anderen Menschen entweder nur das eine oder nur das andere?
Durch diese Übung werden Jugendliche dazu angeleitet, eine technische Entwicklung in Beziehung zum Menschen zu setzen, und nicht abgespalten vom Menschsein – letztlich von sich selbst – deren Vor- und Nachteile zu erwägen. Die Fähigkeit zum eigenen Urteil, die mit einem bewussten Abwägen verbunden ist, erwacht in den jungen Menschen im genannten Alter und unterliegt gerade dann, wenn diese Fähigkeit erwacht, gleichzeitig der Gefahr, letztlich nur den eigenen Sympathien und Antipathien zu folgen. Jeder, der Umgang mit Jugendlichen hat, wird das starke Wirken der anschwellenden und abflauenden Sympathien und Antipathien erlebt haben.
Das Abwägen auf die beschriebene Art und Weise fördert im Jugendlichen – aber auch im Erwachsenen – die Kräfte, die ihm im späteren Leben zu selbstbestimmten, aus dem „Ich“ heraus getroffenen, freien Entscheidungen verhelfen können.
[1] Siehe: Antje Bek, Ich will – Ich schaff´s nicht, https://www.antje-bek.de/post/ich-will-ich-schaff-s-nicht
[2] Rudolf Steiner am 28.4.1922 zu den Lehrern: „Solche Aufsatzthemen geben: ´Die Dampfmaschine, eine Zeugin der menschlichen Stärke´ und gleich darauf: ´Die Dampfmaschine, eine Zeugin der menschlichen Schwäche´. Hintereinander solch ein Thema. Ich glaube, daran erregen Sie das Interesse. Der Unterricht kann so gestaltet werden, dass man Interesse erregt.“ Rudolf Steiner, Konferenzen mit den Lehrern der Freien Waldorfschule Stuttgart, Zweiter Band, GA 300b, Dornach 1975, S. 84
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