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AutorenbildAntje Bek

PFLANZENKUNDE UND DIE BIOGRAFIE DES MENSCHEN – TEIL 1

VOM MITGEFÜHL MIT DER PFLANZENWELT






Angesichts des ausbeuterischen Umgangs des Menschen mit seiner Mitwelt stellt sich die Frage, wie können wir die natürliche Verbindung von Kindern mit Natur und Naturwesen in der Schule so berücksichtigen, dass sich diese unbewusste Verbindung in eine bewusste Beziehung verwandeln kann, die zum Mitgefühl für die Pflanzenwelt und damit zu einem anderen Umgang mit der Natur führt?


In seinem vierzehntägigen Lehrerkurs vor dem Start der ersten Waldorfschule in Stuttgart, hat Rudolf Steiner den zukünftigen Lehrern viele wertvolle Hinweise gegeben, wie der Unterricht so gestaltet werden kann, dass das geistig-seelische Wesen des Kindes, das auf dem Weg in die irdischen Verhältnisse ist, berücksichtigt wird. Dabei war es ihm ein großes Anliegen auf die Frage einzugehen: Wie können wir das, was aus den Naturwissenschaften an die Kinder herangebracht werden möchte, so aufbereiten, dass bei den Kindern der Zugang zur spirituellen, geistigen Seite der Natur nicht verschüttet wird. Die Ergebnisse der Naturwissenschaft werden nicht in Frage gestellt, sie können durchaus wertvoll sein, ihre Forschungsfragen und Schlussfolgerungen sind jedoch im Großen und Ganzen von einem durch und durch materialistischen Denken geprägt. Das führt zu dem Dilemma, dass die Pädagogen selbst – und das gilt nach meiner Auffassung bis heute – von dieser Art des Denkens und der Betrachtung der Natur, durch und durch imprägniert sind.


Menschen- und Tierkunde als Vorbild

Rudolf Steiner hatte in dem Lehrerkurs bereits ein Beispiel für die Besprechung der Tierwelt(1) gegeben. Schon dort wird ein besonderes Anliegen Rudolf Steiners deutlich, das er zwei Tage später direkt aussprach:

 „Aber Sie werden alles auf den Menschen beziehen müssen. Zuletzt wird alles in der Auffassung des Kindes zusammenströmen müssen in der Idee vom Menschen.“(2)

Daher ist auch die Bezeichnung „Menschen- und Tierkunde“ für diesen Unterrichtsabschnitt zutreffender, als ihn lediglich „Tierkunde“ zu nennen.(3)


Anschließend an das Beispiel zur Besprechung des Menschen, seiner Beziehung sowie Stellung zur Tierwelt gab er den Teilnehmern des Kurses die „Hausaufgabe“ eine Idee für die Besprechung der Pflanzenwelt zu entwickeln, durch die die Kinder einen Überblick über diese erhalten sollten. Er hatte gehofft, dass die Anwesenden, von denen viele seit etlichen Jahren eng mit der Anthroposophie verbunden waren, nun aufgrund seines Beispiels eigene, sinnvolle Ideen entwickeln könnten. Über drei Tage behandelte er in den nachmittäglichen Unterredungen diese Fragestellung im Gespräch mit den zukünftigen Lehrern. Sie brachten ihre Ideen ein und Rudolf Steiner versuchte aus fast allen etwas zu machen, indem er konstruktiv darauf einging. Aber er war damit nicht zufrieden, keine Idee war so, dass er sie wirklich brauchbar fand. Man kann erkennen, wie schwer es selbst den geschulten Menschen von damals fiel, die spirituelle Seite der Kinder, aber auch die der Natur zu berücksichtigen, ohne in Gedanken „abzudriften“, die mit dem Wesen der Kinder und der Sache, sprich den Pflanzen, nichts oder wenig zu tun haben.


Pflanzenreich und Entwicklung des Kindes

Schließlich entwickelte er am dritten Tag selbst eine originell erscheinende Idee, um die Pflanzenwelt in eine sinnvolle Beziehung zum Menschen zu bringen. Eine gefühlsmäßige Verbindung mit der Tierwelt ist leichter herzustellen, auch für die Kinder, als eine zu der wesentlich stilleren Pflanzenwelt, sie scheint unserem inneren Erleben ferner zu stehen. Rudolf Steiner möchte nun die Entwicklung des Säuglings bis hin zum Jugendlichen in Beziehung setzen zu den unterschiedlichen Entwicklungsstufen der Pflanzenwelt, wie wir sie in dem Unterschied zwischen Pilz(4) und Rose am deutlichsten erleben können. Dafür braucht es jedoch zunächst einen Ausgangspunkt, auf den in diesem Beitrag eingegangen werden soll, die weitere Entwicklung der Idee Rudolf Steiners und Vorschläge zur Umsetzung sollen in einem weiteren Beitrag dargestellt werden.


„Urbild“ einer Pflanze – Der Löwenzahn

Um zunächst einen Anhaltspunkt dafür zu haben, wann eine Pflanze „voll entwickelt“ ist, braucht man so etwas wie das Urbild einer Pflanze. Die konkrete Frage lautet: Was gehört eigentlich alles zu einer Pflanze dazu, was macht eine Pflanze aus, was charakterisiert sie? Das kann den Kindern etwa an dem Löwenzahn oder auch dem Hahnenfuß deutlich werden. Greifen wir an dieser Stelle den Löwenzahn heraus, der mit seinen gelben Blüten und als spätere „Pusteblume“ nicht nur häufig zu sehen, sondern bei den Kindern auch sehr beliebt ist. In den Seminarbesprechungen macht Rudolf Steiner den Lehrern vor, wie man beginnen könnte zu den Kindern zu sprechen.


 „Seid ihr noch niemals spazierengegangen gegen den Sommer hin? Habt ihr da nicht auf den Feldern solche Blumen stehen sehen, wenn man sie anbläst, fliegen von ihnen Teile fort. Sie haben so kleine Fächerchen, die fliegen dann fort.“(5)

Seine weiteren Ausführungen zum Löwenzahn erstrecken sich über zwei Seiten, ergänzt werden sie durch Zeichnungen von Rudolf Steiner. Es lohnt sich dies nachzulesen und sie sind in den Anmerkungen verlinkt!


Die Pflanze, die Elemente und der Kosmos

Pflanzen stehen immer in wechselseitiger Beziehung mit der Erde, in der sie wachsen. Im Gegensatz zum Tier können sie ihren Standort nicht verlassen und sind zum Gedeihen auf das für sie richtige Verhältnis der Elemente Wasser, Luft, Licht bzw. Wärme angewiesen. Am Löwenzahn erkennen wir die Wurzel, den Stängel, die Blätter, die Blüten und später die Früchte (Pusteblume). Die Wurzel steht mit dem Element des Wassers in Zusammenhang, sie nimmt es aus dem Boden auf. Rudolf Steiner geht nun noch auf die Wirkung der Elemente Luft und Wärme ein. Er macht die Kinder darauf aufmerksam, dass der Löwenzahn immer wieder eine andere Gestalt annimmt, die von der Jahreszeit, d.h. von der Wärme der Sonne abhängt.


„Das, was wir da betrachten, zu drei verschiedenen Zeiten, das ist immer dieselbe Pflanze! Nur ist sie zuerst hauptsächlich grünes Blatt, nachher ist sie hauptsächlich Blüte, und nachher ist sie hauptsächlich Frucht. Denn das sind nur die Früchte, die da herumfliegen. Das Ganze ist ein Löwenzahn!“(6)

Die Pflanze als ein Wesen, das in der (Jahres-)Zeit lebt und nur dann, wenn wir sie als Ganzes in diesem Zusammenhang betrachten, können wir etwas von ihrem Wesen erfassen:

Zunächst, im noch kühlen Frühjahr, wirkt die Luft auf die Blattgestaltung, auf die Entwicklung der Löwenzahnrosette ein, später die von Wärme durchzogene Luft auf die Gestaltung der Blüte, und noch später im Jahr lässt die von der Erde zurückgestrahlte Sonnenwärme die Früchte reifen. Schildert man den Kindern diese Vorgänge lebendig und bildhaft – wobei man sich von den entsprechenden Ausführungen Rudolf Steiners inspirieren lassen kann – wird der Zusammenhang der Pflanze mit der Erde und dem Kosmos anschaulich ins Bild gebracht. Dieser Gesichtspunkt wird dann auch im weiteren Fortgang des Unterrichts berücksichtigt, wenn ein Überblick über das Pflanzenreich gegeben wird.


Vom innerlichen Leidwesen

Wie wichtig es Rudolf Steiner war, den Kindern diese Zusammenhänge gefühlsmäßig zu vermitteln, formuliert er zweieinhalb Jahre später so:

 „Man möchte sagen, das Kind muß eine solche empfindungsgemäße Vorstellung von dem Pflanzenhaften haben, daß, wenn man ihm eine Pflanze beschreibt ohne Beziehung zu Boden und Sonne, es ein innerliches Leidwesen ungefähr so empfindet wie beim Ausreißen der Pflanze.“(7)

Wenn wir uns heute fragen, warum Menschen achtlos mit der Natur umgehen, dann hängt das selbstverständlich auch mit ihren Gedanken, die sich in erster Linie aus (naturwissenschaftlichen) Informationen speisen, und den daraus resultierenden Empfindungen der Natur gegenüber zusammen. Rudolf Steiner hat bereits vor 100 Jahren Wege aufgezeigt, wie sich Mitgefühl sowie ein tieferes Verständnis für das Wesen der Pflanzenwelt bei jungen Menschen entwickeln kann, wozu auch ein Verständnis für das Eingebundensein der Pflanze zwischen Himmel und Erde sowie ihre Beziehung zur Umgebung im weitesten Sinne gehört. Davon im nächsten Beitrag weiter.


Literatur

1 Rudolf Steiner, Erziehungskunst Methodisch-Didaktisches, GA 294, Dornach 1990, S. 95 ff.

2 Rudolf Steiner, Allgemeine Menschenkunde, Dornach 1992, GA 293, S. 141

3 Vgl. dazu: Antje Bek, Menschen- und Tierkunde – Liebe zu Mensch und Natur wecken, in: erWACHSEN&WERDEN 10/23, und Antje Bek, Die erste Menschen- und Tierkundeepoche – Allgemeine Menschenkunde als Unterrichtsinhalt?, in: Peter Lutzker/Tomas Zdrazil, Zugänge zur Allgemeinen Menschenkunde, Stuttgart 2019

4 Obwohl Pilze lange Zeit zu den Pflanzen gezählt wurden, werden sie heute einem eigenen Reich zugerechnet und gelten den Tieren verwandter als den Pflanzen. Darauf wies Rudolf Steiner bereits 1919 hin: „Am meisten Tierisches haben die Pilze…“, Rudolf Steiner, Seminarbesprechungen und Lehrplanvorträge, GA 295, Dornach 1984, S. 110 f. Dennoch macht es Sinn, sie in Zusammenhang mit dem Pflanzenreich und nicht dem Tierreich zu besprechen. In der Oberstufe kann dann auf diese speziellen Fragen näher eingegangen werden.

6 ebd.

7 Rudolf Steiner, Die gesunde Entwickelung des Menschenwesens - Eine Einführung in die anthroposophische Pädagogik und Didaktik , Dornach 1987, GA 303, S. 186


Dieser Beitrag erschien zuerst im Online-Magazin erWACHSEN&WERDEN 04/24, April 2024

 



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