FREUDE AUF DIE ZUKUNFT MACHEN!
Im ersten Teil wurde die Grundidee für die von Rudolf Steiner entwickelten Unterrichtseinheit/Epoche in groben Zügen dargestellt. Außerdem wurde am Beispiel des Löwenzahns beschrieben, was zu einer „voll entwickelten“ Pflanze gehört und wie sie in Zusammenhang mit den Elementen, aber auch dem Jahreslauf betrachtet werden kann. In diesem Beitrag soll die Grundidee, die den Hintergrund der Epoche abgibt, vertiefend erläutert werden.
Rudolf Steiner entwickelte während des Lehrerkurses im Frühherbst 1919 die Idee einer ersten Pflanzenkundeepoche für etwa zehn- bis elfjährige Kinder (5. Klasse) innerhalb der so genannten „Seminarbesprechungen“(1), indem er zu den – im Kurs selbstverständlich nicht anwesenden – „imaginären“ Kindern sprach, d.h. in wörtlicher Rede. Es sei empfohlen diese Ausführungen im Original(2) zu studieren, weil man erleben und empfinden kann, mit welcher Liebe er zu den Kindern von Mensch und Pflanze spricht! Er geht in diesem Stil in groben Zügen durch die gesamte Epoche. Dabei betrachtet er jeweils eine Entwicklungsstufe des Kindes und setzt diese zu einer Pflanzenfamilie in Beziehung – ganz getreu dem Motto: „…alles auf den Menschen beziehen…“(3)
Bewusstseinsentwicklung beim Kind
Bei der Entwicklung des Kindes macht Steiner auf dessen sich veränderndes Bewusstsein aufmerksam, indem er bildhaft beschreibt, wie der Säugling noch ganz schlafend ist, wie dieses Schlafbewusstsein aber überhaupt die frühe Kindheit charakterisiert:
„Ja, es geht euch also da gerade so, wenn ihr klein seid, wie wenn ihr im Bett liegt und schlaft. Da schlaft ihr also als ganz kleine Sputzi, und da schlaft ihr, wenn ihr im Bett liegt.“(4)
Anschließend spricht er über Pilze und Schwämme und nennt dieselben „kindschlafende Seelen.“(5)
„Ja, sieh, da habe ich dir zuerst gesprochen von den Pilzen, von den Algen, von den Moosen. Die haben fast alles, was sie haben von der Erde. Wir müssen in den Wald gehen, wenn wir sie kennenlernen wollen. Da wachsen sie, wo es feucht ist, wo es schattig ist. Die getrauen sich nicht recht heraus in die Sonne. Das ist so, wie deine Seele war, als du dich noch nicht herausgetrautest zum Spielen, sondern mit Milch und Saugflasche dich vergnügtest."(6)
Die Idee für die Epoche
Es ist wohl selbstverständlich, dass die Worte Rudolf Steiners in der eigenen Klasse oder Lerngruppe nicht einfach wiederholt werden können oder sollen, sondern als Anregung aufzufassen sind. Um eine Epoche authentisch gestalten zu können, ist es für die Lehrerin zudem entscheidend, sich klarzumachen, wie diese originell erscheinende Idee mit dem, was durch die Naturwissenschaften erforscht wurde, in Einklang zu bringen ist. Wie ist also zu verstehen, dass Pilze, Algen und Moose innerhalb des Pflanzenreiches als „kindschlafende Seelen“ betrachtet werden können?
Vergleichen wir zunächst die Pilze mit dem Löwenzahn, welcher Wurzel, Stängel, Blätter, Blüten und Früchte entwickelt und in deutlicher Beziehung zu allen vier Elementen steht. Die Pilze wachsen, worauf Rudolf Steiner hinweist, im Wald, im Schatten, d.h. vorwiegend dort, wo es dunkel und kühl ist. Ihre Beziehung zu Licht und Wärme, also zur Sonne, ist wenig ausgebildet, sehr stark dagegen ihre Beziehung zur Erde. Der eigentliche Pilz ist nämlich gar nicht sichtbar, er besteht aus dem in der Dunkelheit der Erde sich verbreitenden Myzel, also dünnen, weißen Zellfäden, die wurzelähnliche Funktionen haben. Das, was wir dann oberhalb der Erde sehen, ist die zweite Entwicklungsstufe des Pilzes, der so genannte Fruchtkörper, der in erster Linie noch als eine „Blüte“ verstanden werden kann, die sich aber nach unten, also zur Erde wendet und z.B. in den Lamellen die Sporen bildet.(7) Wir finden beim Pilz zudem weder Stängel noch Blätter. Da Pilze keine Photosynthese betreiben, was noch einmal ihre wenig vorhandene Beziehung zum Licht unterstreicht, werden sie aktuell nicht mehr zum Pflanzenreich gezählt.(8) Je „höher“ eine Pflanze entwickelt ist, umso inniger ihre Beziehung zum Licht der Sonne, was sich in ihrer gesamten Gestaltbildung zeigt.
Licht und Bewusstsein
Der Mensch steht ebenfalls in engem Zusammenhang mit dem Licht, was sich äußerlich durch seine unterschiedlichen Bewusstseinszustände während des Schlafens und Wachens beobachten lässt. Wir können bemerken, dass wir vorzugsweise in der Dunkelheit der Nacht schlafen und während des sonnerhellten Tages wachen. Dadurch wird nachvollziehbar, dass Rudolf Steiner die in der Dunkelheit lebenden Pilze als „kindschlafende Seelen“ bezeichnet und diese mit dem vorwiegend noch schlafenden Säugling in Beziehung setzt. Andererseits wird es in der Seele des Kindes im Laufe der Entwicklung immer heller, in dem Sinne, dass sein Bewusstsein gegenüber seiner Umgebung zunehmend erwacht. Damit ist selbstverständlich nicht gemeint, dass kleine Kinder eine „dunkle Seele“ hätten, sondern dass die unterschiedlichen Bewusstseinszustände innerhalb der menschlichen Seele auch als abgestuftes inneres Licht erlebt werden können.
Kindheitsstufen und Pflanzenfamilien
An dieser Stelle sei anhand der nachfolgenden Skizze, die in Anlehnung an eine von einem der Teilnehmer des Lehrerkurses angefertigten Darstellung entstand, nun ein kurzer Überblick gegeben, welche Pflanzenfamilien mit welchen Entwicklungs-, d.h. Bewusstseinsstufen des Kindes von Rudolf Steiner in Beziehung gesetzt wurden (näher nachzulesen in den Seminarbesprechungen(9)).
Wir wollen diesen Gedankengang nun noch anhand der unterschiedlichen Ausdifferenzierung der Blätter beschreiben, wobei Pflanzen mit streifennervigen Blättern und solche mit netznervigen Blättern unterschieden werden. Pflanzen mit streifennervigen Blättern, wie etwa das Schneeglöckchen oder die Tulpe, blühen in der Regel früh im Jahr, wenn die Sonne ihre ersten Strahlen aussendet, die Wärme aber noch auf sich warten lässt. Sie besitzen kleinere Wurzeln, häufig eine Zwiebel oder Knolle, haben einen ausgebildeten Stängel, einfach gestaltete Blätter und als Frühjahrsblüher eine eindrucksvolle, farbige, aber schlicht geformte Blüte ohne Kelchblätter. Im Vergleich dazu hat der Löwenzahn, mit seinen netznervigen, differenziert gestalteten Blättern eine kräftige Wurzel sowie eine Vielzahl von Blüten und Früchten. Im Vergleich können wir gut erkennen, wie das Licht im Löwenzahn stark gestaltend tätig ist, was bedeutet, dass das Verhältnis des Löwenzahns zur Sonne, also zum Licht und zur Wärme, ein noch innigeres ist als bei der Tulpe, was sich auch durch die zeitlich spätere Blüte zeigt.
Die einfacher gestalteten „streifennervigen“ Pflanzen setzt Rudolf Steiner nun in Beziehung zum Schulkind vom 7. bis 11. Lebensjahr, also dem Alter, in dem sich die angesprochenen Kinder befinden. Was haben sie nicht inzwischen alles in der Schule gelernt! Wie haben sich ihre Kenntnisse und Fähigkeiten entwickelt! Es hat eine große Veränderung stattgefunden im Vergleich zu der Zeit, als das Kind noch den Kindergarten besuchte!
„Sieh mal, die (Nadelhölzer, Anm. d. Verf.) haben noch keine Blüten. So war es mit deiner Seele, ehe du in die Schule gekommen bist.“(10)
Aber die Entwicklung ist ja mit elf Jahren noch nicht abgeschlossen. Es geht noch weiter, es wird darauf aufmerksam gemacht, dass noch Erlebnisse auf die Kinder warten, die sie jetzt noch nicht haben können. Erlebnisse, auf die sie sich freuen dürfen!
Lebensfreude wecken! – nicht problematisieren
„‘Ihr werdet einmal so reich in eurer Seele sein, dass ihr gleicht der Rose mit farbigem Blumenblatt und grünem Kelchblatt. Das ist etwas, was erst wird, aber freut euch! Das ist schön, wenn man sich freuen kann auf das, was man erst wird.‘ - Freude machen auf die Zukunft! Dass man Freude damit macht, darauf kommt es an.“(11)
Gerade die letzten Sätze sind sehr aktuell und stellen auch für Pädagogen eine Herausforderung dar. Freude auf die Zukunft machen? Können oder „dürfen“ wir das überhaupt? Haben wir selbst diese Freude? Erleben wir diese Freude in uns? Wie wollen wir den Kindern Freude auf die Zukunft machen können, wenn wir selbst – u.a. bei Themen wie Klima und Natur – ständig mit beängstigenden Gedanken umgehen?
Freude an der Natur (wieder neu) zu entdecken, Freude an den menschlichen Entwicklungsmöglichkeiten zu finden – eine Herausforderung der Zeit. Doch gerade das ist so wesentlich für die Kinder, für ihren Wunsch und ihr Bestreben, wirklich auf dieser Erde anzukommen und an deren Entwicklung mitzuarbeiten: Vorfreude auf das, was noch kommen wird, Vorfreude auf all die Entwicklungsmöglichkeiten, die noch vor ihnen liegen. Daher sollten die Erwachsenen, als ihre Wegbereiter und -begleiter, Kinder bis zu einem gewissen Alter (etwa bis zur Pubertät, in der das eigene Urteilsvermögen erwacht) so wenig wie möglich mit all den Problematiken konfrontieren, die uns tagtäglich – wenn auch berechtigt – beschäftigen!
Im nächsten Beitrag sollen dann konkrete Anregungen gegeben werden, wie die Idee für die erste Pflanzenkundeepoche praktisch umgesetzt werden kann.
Literatur
1 Rudolf Steiner, Seminarbesprechungen und Lehrplanvorträge, GA 295, Dornach 1984
2 ebd., S. 123 ff.
3 Rudolf Steiner, Allgemeine Menschenkunde, Dornach 1992, GA 293, S. 141
4 Rudolf Steiner, Seminarbesprechungen und Lehrplanvorträge, GA 295, Dornach 1984, S. 124
5 ebd.
6 ebd., S. 127 f.
7 s. hierzu weitere Ausführungen in: Ernst-Michael Kranich, Urpflanze und Pflanzenreich, Stuttgart 2007, S. 97 ff.
8 Vgl. hierzu auch Anmerkung 4 in Teil I dieses Beitrages
9 Rudolf Steiner, Seminarbesprechungen und Lehrplanvorträge, GA 295, Dornach 1984, S. 128 f.
10 Rudolf Steiner, Seminarbesprechungen und Lehrplanvorträge, GA 295, Dornach 1984, S. 125
11 ebd., S. 129
Dieser Beitrag erschien zuerst im Online-Magazin erWACHSEN&WERDEN 06/24, Juni 2024
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