Neunter Vortrag vom 11. Oktober 1922[1]
Rudolf Steiner, Pädagogischer Jugendkurs[2]
Vorbemerkung: Vor hundert Jahren sprach Rudolf Steiner in Stuttgart vor jungen Menschen, die zum größten Teil mit der Anthroposophie nicht vertraut waren. Worüber er damals sprach, scheint heute aktueller und brennender denn je zu sein. Daher habe ich mich entschlossen, eine kleine Serie zu beginnen. Je Beitrag möchte ich in der entsprechenden Reihenfolge auf einen der dreizehn Vorträge Rudolf Steiners eingehen. Es werden jeweils nur ausgewählte Gesichtspunkte der Vorträge behandelt, die in mir besondere Resonanz gefunden haben. Mit ist durchaus bewusst, dass dadurch andere wesentliche Gesichtspunkte nicht berücksichtigt werden. Wenn sich Menschen angeregt fühlten, anschließend selbst den erwähnten Vortrag zu lesen, wäre es mir eine große Freude! Den Link zum Vortrag findet man unten.
Rudolf Steiner verwandte in seinen Vorträgen für junge Studierende mehrfach das Bild eines Säuglings, der an der Mutterbrust trinkt, wenn er das lebensgemäße Verhältnis zwischen jungen und älteren Menschen verdeutlichen wollte. Dieses Bild mag befremdlich erscheinen, ja, vielleicht sogar veraltet. Was aber verbirgt sich darin? Es ist ein Lebensgesetz, dass der Säugling noch nicht die Nahrung verdauen kann, die der reifere Mensch zu sich nimmt. Wir ernähren uns von tierischen, pflanzlichen und in geringem Maße auch mineralischen Substanzen. Mit diesen Erdenstoffen kommt der Säugling noch nicht zurecht[3], er benötigt menschliche Nahrung, übrigens die einzige, die wir je in unserem Leben zu uns nehmen. Rudolf Steiner sprach drei Jahre zuvor (1919) im Kurs für die angehenden Waldorflehrer darüber, dass durch die Muttermilch die geistige Welt eine bedeutsame Wirksamkeit im jungen Menschenwesen entfaltet, sie erzieht in gewissem Sinne das junge Menschenkind, sie begleitet es auf seinem Weg hinein in die irdische Welt, indem sie den noch schlafenden Geist im Kinde aufwecken hilft.[4] Die menschliche Muttermilch ist der „Wecker“ für den Säugling, sie weckt ihn auf für sein irdische Leben.
Der Mensch als Entwicklungswesen
Was bedeutet es nun für das Verhältnis zwischen älteren und jüngeren Menschen, wenn wir das Bild des Säuglings an der Mutterbrust zugrunde legen? In seinem Vortrag macht Rudolf Steiner darauf aufmerksam, dass es nicht nur für die Ernährung der Kinder naturgegebene Gesetzmäßigkeiten gibt, sondern auch für die weitere seelische Entwicklung des Menschenwesens. Gewisse Fähigkeiten kann der Mensch erst in einem bestimmten Alter entwickeln, diese Tatsachen müssten anerkannt werden – und zwar sowohl von den jüngeren als auch von den älteren Menschen. Letzteren kommt allerdings dadurch, dass sie gewisse Fähigkeiten bereits entwickeln konnten, eine besondere Aufgabe und Verantwortung gegenüber den jüngeren zu. Ein Negieren dieser Gesetzmäßigkeiten von Seiten der Jüngeren würde dasselbe bedeuten, wie wenn ein vierjähriges Kind sagen würde: „Was soll ich mit den zweiten Zähnen bis zum siebten Lebensjahr warten, ich will sie jetzt schon haben.“ Dies sei vergleichbar mit einer Situation, in der sich junge Menschen, bevor sie achtzehn oder neunzehn Jahre alt sind, bereits eigenständige Urteile über übersinnliche Zusammenhänge erlauben wollten, die über das, was sinnlich wahrnehmbar ist, hinausgehen. Dazu bedürfe es nämlich einer inneren Tätigkeit, die ihnen vor dem achtzehnten Lebensjahr nicht möglich ist: Die Fähigkeit zum aktiven Urteil, das neben der Erfahrung gewisser Lebenszusammenhänge das aktive Denken[5] voraussetzt. Anders ausgedrückt: Eigene, auf aktivem Denken gründende Urteile über geistige Wahrheiten – was etwas anderes ist als geistige Wahrnehmungen/Erfahrungen zu machen – kann der junge Mensch noch nicht haben, sondern er ist darauf angewiesen Entsprechendes auf Glauben, auf Autorität hin aufzunehmen. Wie der Säugling auf die Muttermilch angewiesen ist, ist der Mensch in dieser Hinsicht vor seinem achtzehnten Jahr auf seine Mitmenschen angewiesen:
„Daraus folgt aber etwas außerordentlich Bedeutsames für den Verkehr zwischen den Erziehenden und Unterrichtenden und dem jüngeren Menschen. Wenn das nicht beobachtet wird, so ist dieser Verkehr einfach falsch. Heute ist man sich nicht einmal bewusst, dass das so ist, und handelt darum gerade auf dem Gebiete der Pädagogik vielfach ganz verkehrt.“[6]
Wie können junge Menschen an Erwachsene glauben?
Und nun kommt Rudolf Steiner auf eine wesentliche Frage zu sprechen, die den Pädagogen im Besonderen, im Grunde aber alle Menschen betrifft. Wie muss der Erwachsene sein, dass die Jugend an ihn glauben kann? Er schildert, dass es in früheren Zeitaltern selbstverständlich war, dass ein „Unterrichtender“ in erster Linie etwas zu können und zu sein hatte, nur dann wollten junge Menschen Wahrheiten auf Glauben hin aufnehmen. Es ging gar nicht darum Wissen zu vermitteln, sondern so zu sein, dass durch den Glauben an den Unterrichtenden die Zeit vorbereitet wurde, in der das Wissen aufgenommen werden konnte. Bis zum Beginn der Neuzeit war das eine grundlegende Überzeugung der Lehrer in den Klosterschulen, man wusste: „Man muss sich die Möglichkeit erwerben, die Jugend zum Glauben an dasjenige heranzuziehen, was man selber nach seinem Wissen für wahr hält. Und das war einem etwas Heiliges, die Jugend zum Glauben heranzuziehen.“[7]
Resignation oder Opposition
Aller Unterricht hing von der im besten Sinne glaub-würdigen Persönlichkeit eines Menschen ab. Schon zu Rudolf Steiners Zeiten begann man jedoch damit, in den Unterricht ein „objektives“ Element hineinzumischen, ihn unpersönlicher zu gestalten. Diese Tendenz hat sich gerade in den letzten Jahrzehnten verstärkt. Der Lehrer, der sich immerhin noch als Wissensvermittler verstand, verwandelt sich zum Organisator, zum Manager, zum Lernbegleiter, sofern er sich als im Hintergrund agierend versteht. Er macht sich dabei so überflüssig wie möglich und überlässt es den jungen Menschen mehr oder weniger selbst, was und wie sie lernen. An die Stelle eines Menschen treten neue Lernformen sowie Medien (Arbeitsblätter, Bücher, Internet, Videos etc.), an die die jungen Menschen nun glauben müssen, wenn sie es denn können. Es soll hiermit nicht gesagt werden, dass all das keine Berechtigung bzw. keinen Platz im Unterricht und Lernen der Kinder und Jugendlichen haben darf. Aber die Ausschaltung eines realen Menschen, an den man glauben kann, von dem man lernen möchte, aus ihrem Entwicklungsweg kann schließlich nur zu Resignation führen, wie wir es z.B. als Folge der Schulschließungen bis heute mehr als deutlich erleben: Die psychischen Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen, die schon vor der Corona-Zeit ein ernstes Problem darstellten, haben mit und nach den Schließungen besorgniserregend zugenommen.[8] Zu Rudolf Steiners Zeiten war noch nicht das Fehlen von Menschen auf dem Entwicklungsweg das Problem, sondern das Fehlen von Menschen, die das verkörperten, woran die jungen Menschen glauben konnten. Das führte damals zur Opposition, u.a. repräsentiert durch die „Wandervogelbewegung“, zur Opposition der Jüngeren gegen die Älteren, auf die Rudolf Steiner in seinem Vortrag mehrfach durchaus kritisch eingeht; einige Vertreter dieser Bewegung befanden sich damals unter den Zuhörern.
Die kritische Zwischenzeit
Wie sähe aber denn ein entwicklungsförderndes Verhältnis zwischen älteren und jüngeren Menschen aus? Wir können bei den Kindern eine Zeit der Nachahmung beobachten, in der sie mit dem Leben, den Menschen und ihrer Umgebung wie selbstverständlich verbunden sind. Darauf folgt eine Zeit, in der sie an das, was geistige Wahrheiten sind, nur glauben können, bevor sich mit ungefähr 18 Jahren das Urteilsvermögen in dieser Hinsicht entwickelt und dann die Zeit des „Wissens", die deutlich von der Zeit des „Glaubens" zu unterscheiden ist, heranrückt. Damit der erwachsener Mensch bezüglich der Erkenntnisse über die geistige Welt nicht im Zustand des „Glaubens" verharrt, ist es von Bedeutung, dass in der Zeit zwischen ungefähr 7 und 18 Jahren eine Zeit des „Glauben-dürfens" und „Glauben-könnens" durchlebt wird! Diese Zeit wird von Rudolf Steiner eine kritische Zwischenzeit genannt. Er weist darauf hin, dass für diese Zwischenzeit „das wichtigste Weltproblem"(!)[9] gelöst werden muss, von dem Fortschritt oder Niedergang der menschlichen Entwicklung in der Zukunft abhängen wird! Da wir seit dem Ende des 15. Jahrhunderts in einer neuen Zeit, in der Zeit der so genannten „Bewusstseinsseele“, leben, stellt diese Zeit auch andere Anforderungen an die Pädagogik als noch zur Zeit der Griechen oder des Mittelalters. Und die wichtigste Frage ist, was ist in dieser "kritischen Zwischenzeit" zwischen Nachahmung und Wissen heute die Aufgabe der älteren Menschen gegenüber den jüngeren Menschen? Wie kann das Bedürfnis der Kinder und Jugendlichen nach Spiritualität genährt werden?
„Damit die Menschheit nicht verkümmere, muss die Zeit zwischen dem Nachahmungsalter und dem Alter, wo der Mensch die Erkenntnis in der Form der Wahrheit übernehmen kann (mit ca. 18 Jahren, Anm. d. Verf.) ausgefüllt werden dadurch, dass dem Menschen das, was er für Kopf, Herz und Willen haben muss, in künstlerischer Schönheit überliefert wird.“[10]
Was heißt das? Es bedeutet z.B., dass wir den Kindern und Jugendlichen noch keine spirituellen Wahrheiten im Sinne der Erkenntnis übermitteln, wie wir sie uns durch das Studium der Anthroposophie oder anderer spiritueller Literatur aneignen und anschließend „verdauen“ können. Im jungen Alter können geistige Wahrheiten auf diese Weise noch gar nicht aufgefasst werden. Der Mensch verkümmert jedoch, wenn sie gänzlich fehlen. Die Wahrheiten, nach denen die jungen Menschen dürsten, können ihnen jedoch durch eine „Dolmetscherin“ – wie Rudolf Steiner es so schön ausdrückt – vermittelt werden.
Seelennahrung für junge Menschen
Eine solche „Dolmetscherin“, ist die Schönheit, d.h. alles Künstlerische, alle Kunst, aber auch alles Schöne überhaupt kann geistige Wahrheit so übersetzen, dass sie darin - das Gefühl ansprechend - aufleuchtet, ohne sie direkt als Erkenntnis-Wissen zu überbringen. In diesem Sinne spielt etwa das Erzählen von mythologischen Dichtungen (Märchen, Altes Testament, die Edda, griechische Göttersagen, Parzival etc.) eine bedeutende Rolle. Kinder und Jugendliche erfahren durch diese Erzählungen, die der Lehrer selbst zu-, d.h. vorbereitet und dann frei erzählt (wie die Mutter die Muttermilch „zubereitet“ und dem Kind an ihrer Brust gibt), etwas vom Werdegang der Menschheit, von ihrem Herabstieg aus den geistigen Welten in die irdische Welt, aber auch vom Ziel der menschheitlichen und individuellen Entwicklung. Das ist geistige Seelennahrung, die weckend wirkt! Der ganze Unterricht, die ganze Gestaltung der Begegnung zwischen Lehrern und Schülern, zwischen Erwachsenen und Kindern bzw. Jugendlichen, braucht ein künstlerisches Element, braucht wahre Menschenerkenntnis, vor allem die Erkenntnis des Lebendigen im Menschen und der Gesetzmäßigkeiten seiner seelischen und körperlichen Entwicklung. Auf diese Weise wird Erziehung selbst zur Kunst und der Pädagoge ein Erziehungs-Künstler. Durch den Unterricht und durch den Erzieher selbst leuchten die Wahrheiten der geistigen Welt auf, an die die jungen Menschen begründet glauben dürfen. So können sie bei den Erwachsenen finden, was sie aus tiefster Seele suchen und sind gewappnet für die Anforderungen des Lebens.
„Diejenigen, die nicht gelernt haben, durch die Schönheit sich die Wahrheit zu erobern werden niemals ein Vollmenschliches in sich aufnehmen, das sie wappnet gegenüber den Anforderungen des Lebens.“[11]
[1] Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation, Pädagogischer Jugendkurs, Dreizehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 3. bis 15. Oktober 1922, GA 217, S. 128 – 140 [2] Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation, Pädagogischer Jugendkurs, Dreizehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 3. bis 15. Oktober 1922, GA 217
[3]Künstliche Säuglingsnahrung, die aus tierischer Muttermilch hergestellt ist, muss daher in aufwendigen Verfahren erst so zubereitet werden, dass die Kinder sie verdauen können. [4] „Die Milch trägt ihren Geist in sich, und dieser Geist hat die Aufgabe, den schlafenden Kindesgeist zu wecken. Es ist kein bloßes Bild, sondern es ist eine tiefbegründete naturwissenschaftliche Tatsache, daß der in der Natur sitzende Genius, der aus dem geheimnisvollen Untergrund der Natur heraus die Substanz Milch entstehen läßt, der Wecker des schlafenden Menschengeistes im Kinde ist.“ Rudolf Steiner, GA 293, S. 163 [5] s. Antje Bek, Die Göttlichkeit des Denkens und künstliche Intelligenz [6] Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation, Pädagogischer Jugendkurs, Dreizehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 3. bis 15. Oktober 1922, GA 217, S. 130
[7] Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation, Pädagogischer Jugendkurs, Dreizehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 3. bis 15. Oktober 1922, GA 217, S. 131
[8] https://www.aerztezeitung.de/Medizin/Psychische-Folgen-der-Pandemie-bei-Jugendlichen-gravierender-als-angenommen-421778.html [9] ebd., S. 136
[10] ebd.
[11] ebd, S. 137
Foto Alexander Shustov / Unsplash
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