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Viele Menschen erleben aktuell, dass die Art und Weise, wie wir als Menschheitsfamilie zusammenleben sowohl für uns Menschen als auch für unsere Mitwelt ungesund bzw. zerstörerisch ist. Viele fragen sich, was können wir tun, um diese Verhältnisse zu ändern, Versuche gibt es in viele Richtungen.
Ein Einzelner kann die soziale Frage nicht lösen
Bezüglich der Sozialen Dreigliederung macht Rudolf Steiner an verschiedenen Stellen darauf aufmerksam, dass es sich dabei nicht um eine in erster Linie politische Umgestaltung der momentanen Zustände handelt, sondern um eine Verwandlung der inneren Haltung jedes einzelnen Menschen selbst. „Deshalb soll niemand daran denken, eine für alle Zeiten gültige Lösung der sozialen Frage zu suchen, sondern lediglich daran wie sich sein soziales Denken und Wirken mit Rücksicht auf die unmittelbaren Bedürfnisse der Gegenwart (Hervorhebungen d. Verf.) gestalten muss, in welcher er lebt. - Es kann überhaupt kein Einzelner heute irgendetwas Theoretisches ausdenken oder in die Wirklichkeit umsetzen, was als solches die soziale Frage lösen könnte. Dazu müsste er die Macht haben, eine Anzahl von Menschen in die von ihm geschaffenen Verhältnisse hineinzuzwingen.“[1]
Es geht für den Einzelnen zunächst um die Erkenntnis bzw. Anerkenntnis gewisser Gesetzmäßigkeiten eines gesunden sozialen Organismus, wie sie von Rudolf Steiner beschrieben wurden: Etwa der, dass in das Geistesleben das Ideal der Freiheit gehört, in das Rechtsleben das der Gleichheit und in das Wirtschaftsleben das der Brüderlichkeit. Wenn dies erkannt wurde, - und das ist vielen Menschen heute relativ schnell einsichtig - kann jeder Mensch bemerken, wo er selbst gerade steht. So ist z.B. unser Wirtschaftsleben nicht auf wahrer Brüderlichkeit, sondern in erster Linie auf Egoismus und Eigennutz gegründet und jeder von uns ist daran beteiligt. Wer sich einmal ehrlich prüft, wird dies auch erkennen können. Der Einzelne kann sich jedoch jederzeit bemühen sein Denken und Handeln so zu verwandeln, dass er im beschriebenen Sinne heilsamer für die Menschheitsfamilie wirken kann.
Keime in der Kindheit
Entscheidende Grundlagen für die Möglichkeit als erwachsener Mensch im sozialen Organismus heilsam wirken zu können werden in der Kindheit gelegt. Die Erziehungsfrage ist eben auch daher eine so entscheidende! Durch die Anthroposophie (Waldorfpädagogik) haben wir die Möglichkeit in dem, was die Kinder aus der geistigen Welt mitbringen, den Keim dessen zu sehen, was für die Zukunft der Menschheit heilsam werden kann. Wenn wir dies zunehmend (an-)erkennen lernen, dann werden wir als Eltern, Erzieher, Lehrer, Pädagogen immer fähiger, die jungen Menschen so zu begleiten, dass die mitgebrachten Keime nicht verkümmern, sondern sich im späteren Leben kräftig entfalten können.
In dem Beitrag: „Die Erziehungsfrage und das Ideal der Freiheit“ wurde bereits versucht zu zeigen, wie durch die Förderung der Nachahmungskraft in der frühen Kindheit die Grundlage gelegt wird, später dem Ideal der „Freiheit“ im Geistesleben nachstreben zu können.
Bedeutung von Autoritäten für das Kind
Um den Zahnwechsel herum, so ab dem 7. Lebensjahr, verwandelt sich das Verhältnis des Kindes zu seiner Umgebung grundlegend. Lebte es in den ersten Lebensjahren noch in völliger Hingabe an seine Umgebung, insbesondere an ihn umgebende Menschen und lernte von ihnen durch Nachahmung, entwickelt es Verlaufe der mittleren Kindheit ein eigenständiges Innenleben, das Fühlen. Auch empfindet das Kind in diesem Alter, dass der andere Mensch, der Erwachsene ebenfalls ein Wesen mit einer eigenen Innenwelt ist. Aus der völligen Hingabe an die Mitwelt, mit der es wie „eins“ war, wird es nun in gewisser Weise befreit und kommt damit einen Schritt weiter als Mensch auf dieser Erde an. Es bleibt aber weiterhin mit der Innenwelt der Erwachsenen innig verbunden, davon hat es sich noch nicht emanzipiert, das geschieht erst mit der Geschlechtsreife oder – wie Rudolf Steiner es treffend nennt – der Erdenreife mit ca. 14 Jahren. Das Kind wünscht und braucht weiterhin Führung durch Menschen. Es kommt aus der geistigen Welt, in der es mit höher entwickelten geistigen Wesen zusammen“gelebt“ hat. Mit ihnen gemeinsam hat es seinen Lebensplan ausgearbeitet, von ihnen hat es Impulse und auch Führung erhalten. Rudolf Steiner formulierte im ersten Lehrerkurs 1919 gegenüber den zukünftigen Waldorflehrern wie folgt: „Und wir wollen nicht nur sehen auf das, was das Menschendasein erfährt nach dem Tode, also auf die geistige Fortsetzung des Physischen; wir wollen uns bewusst werden, dass das physische Dasein hier eine Fortsetzung des geistigen ist, dass wir durch Erziehung fortzusetzen haben dasjenige, was ohne unser Zutun besorgt worden ist von höheren Wesen.“[2]
Fragen an den Pädagogen
In diesem Sinne wünscht und braucht das Kind weiterhin Orientierung. Und seine große – unausgesprochene – Frage ist: Wo finde ich einen solchen Menschen, dem ich gerne aus innerstem Antrieb nachfolgen will? Das ist tatsächlich heute eine sehr konkrete und aktuelle Frage. Sie bedeutet nämlich für den Erwachsenen zweierlei. Ersten: Will ich so eine in diesem Sinne vom Kind geliebte Autorität überhaupt sein? Will ich dem Kind überhaupt Führung im beschriebenen Sinne geben? Und Zweitens: Wie kann ich das sein? Was habe ich schon, dass ich das sein kann, und was müsste ich selbst noch in mir erwecken?
Es wird oft gesagt, dass die Kinder heute anders sind. Dass sie viel mehr selbst schon wissen, was sie wollen und was sie nicht wollen. Dass sie auf vermeintlichen Autoritäten sogar wie allergisch reagieren. Dies mag durchaus sein, dass Kinder heute anders, in vielen Bereichen bereits wesentlich wacher hier auf der Erde ankommen als noch vor Jahrzehnten. Aber die Frage sei doch erlaubt, ob es nicht auch sein könnte, dass sie gerade aufgrund einer wesentlich stärkeren Sensibilität sofort bemerken, wenn sich in ihrer Umgebung wenige Menschen befinden, die ihnen Orientierung geben wollen und können. Das Suchen der Kinder läuft dann ins Leere und sie müssen sich irgendwie selbst helfen. Wenn sie in diesem Alter erleben: Der Erwachsene weiß ja selbst nicht und fragt mich immer wieder, dann erleben sie keine Wesen um sich herum, an die sie sich anlehnen können. Dann sind sie auf sich selbst zurückgeworfen und fühlen sich alleine gelassen. Dann kann sich das Autoritätsgefühl in diesem Alter nicht wirklich entwickeln, es verkümmert.
Sind wir denn alle gleich?
Worauf kommt es denn nun für uns PädagogInnen an? Iris Johansson, eine schwedische Mentorin, Seminarleiterin, Buchautorin, Kommunikationsspezialistin und Autistin hat es in dem 2018 erschienen Buch „Gespräche mit Iris“ folgendermaßen ausgedrückt:
„Diejenigen, die jetzt (…) geboren werden streben vor allem danach, Wurzeln zu bekommen, denn sie haben keine. Und deren Eltern hatten keine, weil sie in die Schule gesteckt wurden, wo die Wurzeln ausgerissen wurden. Es geht darum, dass die Wurzeln nach unten wachsen und die Krone nach oben. (…) Dass heutzutage so viele Menschen sich das Leben nehmen oder es versuchen, sagt mir, dass die Menschen keine Wurzeln mehr haben, die in die Erde hineinreichen, und dass sie nicht spüren, dass sie einfach dadurch, dass sie da sind, wertvoll sind. Diesen Wert kann man nicht durch Leistung, Erfolg, Ansehen, Macht usw. beeinflussen. Die innere Geborgenheit ist wichtig für Menschen, die mit Kindern und Jugendlichen, die eine äußere Geborgenheit brauchen, arbeiten. (Hervorhebung d. Verf.)“[3] Sie beschreibt mit diesen Worten einerseits, wohin es führt, wenn junge Menschen in ihrer Kindheit keine im guten Sinne Orientierung gefunden haben: Sie sind als Erwachsene unsicher und haltlos, haben keine Wurzeln in dieser Erde schlagen und daher auch keine Krone bilden können. Und sie beschreibt andererseits, dass ein Erwachsener innere Geborgenheit dadurch erleben kann, dass er sich als wertvolles, einfach durch sein SEIN wertvolles, d.h. geistiges Wesen erkennen kann. Als ein Schöpferwesen, dessen Wert nicht von Leistung, Erfolg, Ansehen oder „Perfektion“ abhängt.
Als geistige Wesen betrachtet sind wir alle gleich (wertvoll), ganz unabhängig davon, wie wir uns mit unseren Fähigkeiten, Talenten oder auch Einseitigkeiten hier auf dieser Erde verwirklichen. Haben wir dies für uns und damit gleichzeitig auch für alle Mitmenschen, erkannt, können wir Kindern die Geborgenheit und Orientierung geben, die sie zunächst noch suchen. Dann können sie Gefühle wie Verehrung gegenüber einem erwachsenen Menschen entwickeln, weil ihnen ein menschliches, irdisches Wesen begegnet, das das Schöpferwesen in sich und im anderen (an-)erkannt hat. Ein irdisches Wesen, das vom geistigen Ursprung des Menschen weiß, an den sich das Kind noch – häufig sogar mehr oder weniger bewusst – erinnert. Von einem solchen Menschen möchte es dann lernen, an und durch einen solchen Menschen möchte es sich entwickeln. Das gibt Kindern Halt, d.h. Wurzeln, auch für ihr späteres Erdenleben. Dieses Erleben kann sich dahingehend verwandeln, dass sich der Erwachsene mehr und mehr bemüht im anderen den MENSCHEN zu sehen und damit ein ihm selbst gleiches/“gleichwertiges“ Wesen, bei allen individuellen Unterschieden, die sich hier im Zusammenleben zeigen. Christina von Dreien, eine junge Frau, die sich als Botschafterin einer Neuen Zeit versteht, beschreibt es folgendermaßen: „In unserem innersten Wesenskern sind wir alle gleich. Niemand ist weiter als der andere, kein Licht ist heller als das andere, und keine Lebensaufgabe ist wichtiger als eine andere. Wir sind alle göttliche Wesen, die hier eine Erfahrung als Mensch machen, und nicht Menschen, die zu göttlichen Wesen werden.“ [4] Diese Erkenntnis, dieses Erleben kann dazu führen, dass das Ideal der Freiheit (Verwandlung aus dem 1. Jahrsiebt) zwar in ganz individueller, aber nicht egoistischer, sondern in sozial verträglicher Weise angestrebt wird.
Vom Autoritätsgefühl zur Liebefähigkeit
An diesem Punkt können wir uns wiederum selbst überprüfen, inwieweit es uns bereits gelingt im anderen Menschen auch einen „Gleichen“ zu sehen. Wie sehr hängen wir doch immer wieder in unseren Urteilen, Vorurteilen, Abwertungen etc. Bei dem einen stärker gegenüber sich selbst, indem er andere „aufwertet“, bei dem anderen gegenüber dem Mitmenschen, indem er sich selbst „aufwertet“. Es lässt sich leicht erkennen, wie gerade dieser Punkt zum Unfrieden auf der Welt führt. Die Haltlosigkeit im erwachsenen Menschen wiederum macht anfällig dafür, sich an andere Menschen „dranzuhängen“ und kritiklos vermeintlichen Autoritäten zu folgen. Autonomie, Eigenverantwortlichkeit und Selbstermächtigung bleiben auf der Strecke.
Im Laufe einer gesunden Entwicklung wird sich das Kind von der so innigen Verbundenheit mit verehrungswürdigen Menschen in seiner Umgebung notwendigerweise lösen, mit allen Krisen, die das mit sich bringen kann Das Autoritätsgefühl kann sich im dritten Jahrsiebt in ein freies, selbstbestimmtes Verhältnis zum anderen Menschen verwandeln, in etwas, das wir dann Liebefähigkeit nennen. Das Autoritätsgefühl selbst ist ein wesentlicher Entwicklungsschritt auf dem Weg hin zu dieser Fähigkeit.
Inwiefern die Entwicklung der Liebefähigkeit im dritten Jahrsiebt mit dem Ideal der Brüderlichkeit zusammenhängt, das sich in einem gesunden sozialen Organismus im Wirtschaftsleben zu verwirklichen sucht, soll in einem folgenden Beitrag erörtert werden.
[1] Rudolf Steiner, Geisteswissenschaft und Soziale Frage, Erstveröffentlichung: „Lucifer-Gnosis“, Nr. 30 u. 32, 1905/06 . (GA Bd. 34, S. 191-121), , http://anthroposophie.byu.edu/aufsaetze/a115.pdf, S. 25 [2] Rudolf Steiner, Allgemeine Menschenkunde, GA 293, S. 21 [3] Thomas Pedroli: Gespräche mit Iris, Lernen in der vierten Dimension, Velbert 2018, S. 73 [4] Christina von Dreien, Die Vision des Guten, Jestetten 2018
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