Wie alt bist du? – Oder: Wo siehst du eine Zahl?
- Antje Bek
- 6. Apr.
- 5 Min. Lesezeit
Zur Entwicklung des Zahlbegriffs - Teil 1

Sicherlich haben Sie auch schon einmal ein kleines Kind nach seinem Alter gefragt. Als Antwort wird Ihnen eine Hand mit einer gewissen Anzahl hochgestreckter Finger entgegengehalten. Bei kleinen Kindern (ca. 3 Jahre) häufig noch ohne „Kommentar“ und Sie müssen selbst an der Zahl der Finger ablesen, wie alt das Kind wohl ist. „Du bist drei Jahre alt?“ Ein deutliches Nicken erfolgt.
Bei etwas älteren Kindern werden Ihnen noch immer die Finger entgegengestreckt, aber diese Geste wird kommentiert mit: „Ich bin fünf!“ Wenn man sich in diese Szenen hineindenkt, dann können Fragen aufsteigen: Warum zeigen die Kinder überhaupt die Finger hoch? Das kleinere Kind scheint das Wort „drei“ doch bereits zu kennen, warum sagt es das dann nicht selbst? Und dann erst das fünfjährige Kind. Das kann doch „fünf“ schon ohne Probleme sagen, warum dann noch die Hand? Dieses Verhalten kann also nicht damit zusammenhängen, dass der Spracherwerb noch nicht weit genug fortgeschritten ist, oder dass ein bestimmtes Wort (also die Antwort auf die Fragen: Wie alt bist du?) einfach vergessen wird.
Schauen wir uns einmal an, was das Kind sieht und fühlt, wenn es seine Finger hochstreckt: Es sieht seine Finger und nimmt durch seinen Eigenbewegungssinn - auch kinästhetischer Sinn genannt - , der uns die Stellung unserer Gliedmaßen vermittelt, die hochgeklappten und die heruntergeklappten Finger wahr. Es sieht auch die Farbe seiner Finger, fühlt wie warm oder kalt sie sind. Es nimmt ebenfalls wahr, dass die Finger eine unterschiedliche Form und Länge haben. Seine Sinne vermitteln ihm viel über die Finger, aber die Anzahl der Finger vermitteln sie nicht, dafür haben wir keinen Sinn. Das ist eine Erkenntnis- bzw. Begriffsfrage.
Zahlen als Eigenschaften von Objekten
Dabei ist folgendes zu beachten: Das Kind erlebt die Zahlen zunächst als Eigenschaften von Dingen. „Drei“ ist die Eigenschaft der hochgehaltenen Finger. Es gibt auch drei Äpfel, drei Autos, drei Bälle etc. Grammatikalisch betrachtet, ist „drei“ in den genannten Fällen ein Adjektiv, ein Eigenschaftswort. Zahlen haben für das Kind also zunächst eine sehr konkrete Bedeutung bzw. sie zeigen sich im Konkreten, als Eigenschaft von Dingen, da das Kind in den ersten sieben Jahren noch ganz „Sinnesorgan“ ist und sich der Zahlbegriff, den Erwachsene haben, erst entwickelt.
Zahlen sind mehr als Wörter
Wenn wir als Erwachsene Mathematik betreiben, wenn wir im eigentlichen Sinne rechnen, dann gehen wir mit Zahlen jedoch anders um. „Drei“ ist dann keine Eigenschaft von Sinneserscheinungen, sondern wir gehen mit der „Drei“ um, mit der „Fünf“ etc. Wir können drei und fünf addieren und wissen, dass wir dann acht erhalten. Dieser Rechenvorgang ist völlig unabhängig von irgendwelchen Erscheinungen in der Sinneswelt. Auch für die Entscheidung, ob drei plus fünf tatsächlich acht ist, d.h. ob das richtig ist, brauchen wir uns keine konkreten, d.h. sinnlichen Vorstellungen zu bilden. Wir wissen einfach, dass das stimmt.
Und das ist doch eine geheimnisvolle Sache. Wie machen wir das denn überhaupt? Nehmen wir einmal, um zu veranschaulichen, was es bedeuten würde ohne Zahlbegriff zu rechnen, folgenden Fall: Statt der Zahlen haben wir Buchstaben. Merken Sie sich also bitte folgende „Zahlenreihe“: s a f g i b l k.
Nun gebe ich Ihnen die Aufgabe: Wie viel ist a + g? Sie überlegen? Also, das ist doch klar, wir erhalten b! Für manches Kind, das Schwierigkeiten mit der Mathematik hat, bedeutet Rechnen genau das... Zahlen sind Wörter (wir haben stattdessen Buchstaben genommen), die in einer bestimmten Reihenfolge erscheinen – mehr nicht. Ich beschreibe einmal, was ich getan habe, um die „Rechenaufgabe“ zu lösen: Aha: a ist der zweite Buchstabe in der Reihe, (also zwei), g ist der vierte Buchstabe, (also vier). Wenn ich vom vierten Buchstaben aus zwei Buchstaben weiter gehe, dann komme ich zu b! Und b ist der fünfte Buchstabe in der Reihe, also kommt fünf raus. Manche Kinder „rechnen“ tatsächlich so ähnlich, sie müssen immer wieder die Zahlwortreihe durchgehen, um beim Rechnen zu Ergebnissen zu kommen, die Wörter „eins, zwei, drei, vier…“ sagen ihnen nichts, bzw. sagen nur, an welcher Stelle in der Reihe das Wort steht. Das kann z.B. dazu führen, dass ein Schulkind immer wieder die einzelnen Finger hochzählen, also die Zahlwortreihe aufsagen muss, wenn es gefragt wird: „Zeige mir mit deinen Fingern ´vier´.“
Wenn ich Erwachsene frage: „Was stellst Du Dir eigentlich vor, wenn ich „Sieben“ sage?“, dann kommt zunächst häufig die Antwort: „Ich stelle mir die Ziffer 7 vor.“ Nun gut, aber die Ziffer „7“ repräsentiert ja nur etwas, sie ist Symbol für etwas. Die Sieben unterscheidet sich doch auf andere Weise von der Neun als durch ihre Schreibweise. Und dann wird es schwierig zu beschreiben, welche Vorstellung man sich dabei überhaupt bildet. Manche Menschen sehen die Zahlen im Raum, also die 9 ist einfach weiter weg als die 7. Für die anderen hat die 9 mehr „Gewicht“ als die 7 usw. Für wieder andere – man nennt sie auch Synästhetiker – wird jede Zahl durch eine bestimmte Farbe repräsentiert. Auf eine merkwürdige Weise entgleiten uns unsere Vorstellungen und andererseits können wir doch mit Zahlen umgehen.
Sinnlichkeitsfreie Vorstellungen: Zahlen als Begriff
Die Sache ist nun folgende: Die „Drei“, die „Zehn“ können wir nirgends in der Welt sehen, es gibt sie dort gar nicht. Wir können „drei, fünf“ als Eigenschaft von Dingen bemerken (allerdings auch nicht sehen, wie oben ausgeführt). Aber als eine Wesenheit für sich sind die Zahlen in der physischen Welt nicht existent. Das gilt allerdings auch für andere Begriffe: Wenn jemand von einem „Baum“ spricht, so können wir „Baum“ auch nicht sehen. Es gibt sehr viele verschiedene Bäume: Birken, Tannen, Eichen etc. „Den Baum“ gibt es auch nicht, das ist ein Begriff, der sich umso mehr für uns anreichert, umso mehr wir uns mit den unterschiedlichsten Bäumen beschäftigen. Sagt jemand zu uns jedoch das Wort „Baum“, so haben wir eine irgendwie geartete konkrete Vorstellung davon. Wenn auch „unscharf“, sehen wir innerlich etwas, das einem konkreten Baum ähnlich ist.
Das ist bei Zahlen in der Regel anders. Wir verknüpfen damit als Erwachsene eben keine konkrete Vorstellung. Es gibt keine sinnliche Erscheinung, die der Drei ähnelt. Wir gehen abstrakt mit Zahlen um. Ich habe bisher erst einen Menschen erlebt, bei dem das anders war. Es war eine Studentin, die in ihrem Heimatland das Rechnen an einem Abakus, also einem mechanischen Rechengerät, gelernt hatte, was dort sehr gefördert wurde. Es gab landesweite Wettbewerbe, wer mit diesem Rechengerät am schnellsten rechnen kann. Sie hatte so intensiv trainiert, dass sie einige dieser Wettbewerbe gewonnen hatte. Bei ihr tauchte bei jeder Zahl unwillkürlich das Bild auf, mit dem diese Zahl auf dem Abakus veranschaulicht war. Sie sah zudem bei Additions- oder Subtraktionsaufgaben innerlich immer die Rechenmaschine sowie die Bewegungen der Kugeln vor sich, durch die die Aufgaben gelöst werden konnten.
Kleine Kinder brauchen sinnliche Erfahrungen mit Zahlen
Für kleinere Kinder scheint es, anders als für Erwachsene, notwendig zu sein, eine Beziehung zwischen einer Zahl und einer Sinneserscheinung herzustellen! Das Wort „fünf“ ohne Bezug zu einem Gegenstand, einer sinnlichen Erscheinung ist für sie noch ohne Bedeutung, also sinn-los. Und dieses Bedürfnis nach etwas Konkretem ist meiner Ansicht nach der Grund dafür, warum kleine Kinder einem ihre Finger entgegenstrecken, wenn man sie nach ihrem Alter fragt. Für das fünfjährige Kind, das auf die Frage nach seinem Alter zwar schon mit „fünf“ antwortet, aber einem noch immer die Finger entgegenstreckt, ist der zeitliche Begriff „fünf Jahre“ auch nichts Konkretes. Wollen wir Kindern in diesem Alter vermitteln, wie lange es noch bis zum ersehnten Geburtstagsfest dauert, dann konkretisieren wir das, indem wir sagen: Du musst noch zwei Mal schlafen. Das können sie mit konkreten Erfahrungen verbinden.
Wie aber erwerben sich Kinder einen sinnlickeitsfreien Zahlbegriff? Dieser Frage wollen wir im nächsten Beitrag nachgehen.
Dieser Beitrag erschien ebenfalls in der April-Ausgabe 2025 von https://www.erwachsen-und-werden.de
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