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AutorenbildAntje Bek

Wie werden wir zu dem Menschen, den Kinder und Jugendliche suchen?

Den Erzieher in sich erwecken


Elfter Vortrag vom 13. Oktober 1922[1]

Rudolf Steiner, Pädagogischer Jugendkurs[2]


Vorbemerkung: Vor hundert Jahren sprach Rudolf Steiner in Stuttgart vor jungen Menschen, die zum größten Teil mit der Anthroposophie nicht vertraut waren. Worüber er damals sprach, scheint heute aktueller und brennender denn je zu sein. Daher habe ich mich entschlossen, eine kleine Serie zu beginnen. Je Beitrag möchte ich in der entsprechenden Reihenfolge auf einen der dreizehn Vorträge Rudolf Steiners eingehen. Es werden jeweils nur ausgewählte Gesichtspunkte der Vorträge behandelt, die in mir besondere Resonanz gefunden haben. Mit ist durchaus bewusst, dass dadurch andere wesentliche Gesichtspunkte nicht berücksichtigt werden. Wenn sich Menschen angeregt fühlten, anschließend selbst den erwähnten Vortrag zu lesen, wäre es mir eine große Freude! Den Link zum Vortrag findet man unten.

„(...) das Kind ist ganz besonders zwischen dem Zahnwechsel und der Geschlechtsreife dazu veranlagt, in seinem Herzen das zu empfinden, was ihm im Lehrer als aus diesem vorirdischen Dasein stammend gegenüber steht.Rudolf Steiner[3]


Im elften Vortrag des Pädagogischen Jugendkurses ist ein zentrales Motiv die Frage, wie man zum Erzieher für Kinder und Jugendliche werden kann. Rudolf Steiner hat diese Vorträge 1922 vor jungen Menschen gehalten, drei Jahre nach seinem zweiwöchigen Ausbildungskurs für die Lehrer der ersten Waldorfschule in Stuttgart. Ganz schlicht sagt er 1922: „Wir können nicht durch Studium Erzieher werden.“ Er meint damit ein akademisches Studium an einer Universität oder Hochschule, bei dem wissenschaftliche Erkenntnis gelehrt und gelernt wird. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind für ihn per se nicht geeignet, um den Erzieher in uns zu erwecken, der – und das ist ja unglaublich tröstlich – in jedem von uns stecke.


Erzieher als mögliches Hindernis

Ich möchte ausdrücklich hinzufügen, dass nichts dagegen spricht, sich als werdender Erzieher oder Lehrer mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu beschäftigen, die Frage ist an dieser Stelle jedoch eine andere, nämlich: Wie versetzen wir uns selbst in die Lage, den Kindern die Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die sich ihrer Entwicklung und der Entfaltung ihrer Anlagen, Fähigkeiten und Begabungen in den Weg stellen? Wie werden wir nicht selbst noch zum Hindernis für deren Entwicklung? Die Möglichkeit als Erzieher selbst zum Hindernis zu werden wird heute gerade von wachen Menschen stark empfunden. Leider kann das zu der Schlussfolgerung führen, sich als Erwachsener am besten herauszuhalten und es den Kindern selbst zu überlassen, wie sie sich entwickeln, was und wie sie lernen. Eine Lösung für die durchaus berechtigte Sorge kann das allerdings schwerlich sein, denn die Kinder finden dann den für sie förderlichen Menschen, den sie in diesem Alter so sehr suchen, unter Umständen gar nicht mehr.


Wie aber werden wir zu dem Menschen, der die Kinder auf ihrem Lebensweg im besten Sinne begleiten und führen kann? Dass dies keine Frage des Wissens, sondern der eigenen Entwicklung ist, macht Rudolf Steiner in seinem Vortrag sehr deutlich.


Wiederholte Leben auf der Erde und in der geistigen Welt

Was Kinder und Jugendliche am meisten brauchen sind Menschen, durch die sie eine Individualität erleben können. Das gilt insbesondere für Kinder zwischen ca. 7 und 14 Jahren, worauf das oben voran gestellte Zitat bereits hindeutet. Aber was ist eine Individualität, was macht eine Individualität denn aus? Wissenschaft schließt Individualität jedoch gerade aus, denn deren Erkenntnisse sollen für alle Menschen gleichermaßen Gültigkeit haben. Die Frage nach Individualität lässt sich zudem nicht in fest umrissenen, konturierten Begriffen definieren, denn sie hängt mit unseren vorangegangenen Erdenleben sowie unserem vorgeburtlichen Dasein zusammen. Das sind zwei durchaus sehr unterschiedliche Daseinsformen, die wir durchgemacht haben: Irdische Leben einerseits und Leben in der geistigen Welt andererseits.


Welche Menschen brauchen Jugendliche?

Durch unsere verschiedenen Erdeninkarnationen hindurch und der anschließenden Verarbeitung unserer Erfahrungen in der geistigen Welt hat jeder von uns seinen ganz individuellen Schicksalsweg, hat jeder seine Individualität in der einen oder anderen Weise entwickelt, immer auch im Zusammenspiel mit anderen Menschen. Das können wir insbesondere bei der ersten Begegnung mit einem uns bis dahin noch unbekannten Menschen am bewusstesten erleben, es spielt aber stets in unser Miteinander hinein. In unseren spontanen Sympathien und Antipathien leben wechselseitig die ganzen Erlebnisse, die wir mit diesem Menschen in vergangenen Erdenleben durchgemacht haben. Je mehr wir uns darin üben, das in unser Bewusstsein zu heben, umso mehr versetzen wir uns als Erwachsene in die Lage, im anderen wirklich dessen Individualität, den einzigartigen Menschen zu erkennen. Dann beschäftigt sich nicht nur der Kopf mit dem anderen oder das schnelle Urteil, sondern dann begegnen wir als ganzer Mensch dem anderen. Aus dieser Haltung kann tiefes Interesse am Mitmenschen entstehen. Das war es auch, was Rudolf Steiner einmal den Oberstufenlehrern der ersten Waldorfschule in einer Konferenz gesagt hat. Die gravierenden Probleme[4], die (euch) die Jugendlichen machen, haben ihre Ursache darin, dass Ihr Euch nicht genügend für sie interessiert! Für die Zeit ab der Geschlechtsreife ist diese Ebene der menschlichen Begegnung entscheidend für die Entwicklung des jungen Menschen.


Gedankenkunst, lebendiges Seelenleben und Vorgeburtliches

Im jüngeren Alter, zwischen Zahnwechsel und Geschlechtsreife, sucht das Kind einen Menschen, der sich selbst ein lebendiges Seelenleben angeeignet hat. Was macht denn unser Seelenleben lebendig? Lebendig wird unser Seelenleben, wenn wir eine Seelenfähigkeit, nämlich das Denken, stärken, wenn wir das Denken von innerer Aktivität, von Willensstärke durchdringen lassen. Wir können das Denken dann wie einen Fluss erleben, wie etwas, das organisch und lebendig fließend ist, wodurch wir wieder an unser vorgeburtliches Leben anschließen. Wie ist das zu verstehen? In seinem Lehrerkurs hat Rudolf Steiner bereits am zweiten Tag darauf hingewiesen, wie das Denken, sprich das Vorstellen ein Abbild, ein Spiegelbild einer Tätigkeit ist, die wir vorgeburtlich ausgeführt haben. Bild bedeutet ja immer, dass es eben ein Abbild von etwas im weitesten Sinne „Lebendigen“ ist, das aber selbst das Leben nicht mehr enthält. Ein Urlaubsfoto erinnert uns an unsere Eindrücke und Erlebnisse, es ist aber nicht das Erlebnis. So eben auch das Denken bzw. Vorstellen, es „erinnert“ uns – als Tätigkeit – an das, was wir vor der Geburt getan haben, mehr aber zunächst nicht. Je stärker wir es jedoch aktivieren, je mehr wir es verlebendigen, etwa durch Studium der „Philosophie der Freiheit“ – auf die Rudolf Steiner noch einmal hinweist – umso mehr treten wir in reale Beziehung zu unserem vorgeburtlichen Leben und das hat wiederum Auswirkungen auf unsere gesamte „Ausstrahlung“.


An dieser Stelle sei folgendes eingeschoben: Die Vorträge, die Rudolf Steiner während des ersten Lehrerkurses früh morgens zu Beginn hielt, regen unser Denken ebenfalls in dieser Hinsicht an. Dazu erlaube ich mir persönlich anzumerken, dass diese Vorträge, d.h. die „Allgemeine Menschenkunde“[5], das erste Buch von Rudolf Steiner war, das ich überhaupt gelesen habe. Ich habe nichts verstanden, aber etwas erlebt – wenn damals auch noch unbewusst, sonst hätte ich die 14 Vorträge kaum bis zum Ende gelesen. Es handelt sich bei diesen Vorträgen um wahre Gedankenkunst, mit der uns Rudolf Steiner lebendige Begriffe über den Menschen durch Sprache vermittelt. Das Denken wird zum Erlebnis, es öffnet das Tor zu unserem vorgeburtlichen Sein.


Welche Menschen brauchen jüngere Schulkinder?

Die zuvor erwähnte „Ausstrahlung“ ist es, die uns zu Erziehern macht, weil das Kind ein tiefes Herzensbedürfnis danach hat, durch den Lehrer etwas wahrzunehmen, das mit dem vorgeburtlichen Leben zusammenhängt, welches es vor noch nicht langer Zeit verlassen hat. Von Herz zu Herz möchte es dem Erwachsenen begegnen können. Wodurch nehmen die Kinder nun wahr, was der Erzieher so in seiner Seele belebt, aktiviert und entwickelt hat? „Durch jede Handbewegung, jeden Blick, durch die Betonung der Worte schimmert es hindurch. Im Grunde ist es das Timbre, das durch Geste, Worte, Gedanke des Erziehers zu dem Kinde hindurchwirkt, was von dem Kinde gesucht wird.“[6]


Hiermit ist ein künstlerischer Prozess beschrieben, bei dem durch den Menschen das Individuelle hindurchstrahlt, was mit der geistigen Welt, konkreter dem vorgeburtlichen Leben in erlebtem Zusammenhang steht. „Im Künstlerischen ist aber jeder Mensch eine Individualität. Durch das Künstlerische kann daher auch ein individuelles Verhältnis des Kindes zu dem sich regenden und betätigenden Menschen zustandekommen, und das ist notwendig.“[7]


Wissenschaftliche Erkenntnisse haben schließlich dann durchaus ihre Bedeutung im Unterricht, wenn sie nicht nur den Kopf ansprechen, sondern auf künstlerische Weise vermittelt werden, sodass sie den ganzen Menschen, das ganze Kind, den ganzen Jugendlichen ergreifen können und dadurch zur Individualisierung beitragen!


Kommen wir zum Abschluss noch einmal darauf zurück, was für die Erweckung des Erziehers in uns, sprich für die Ausbildung von Erziehern notwendig ist:


Wir können andere zum Erzieher nicht dressieren, schon aus dem Grunde nicht, weil jeder von uns einer ist. In jedem Menschen ist ein Erzieher; aber dieser Erzieher schläft, er muss aufgeweckt werden, und das Künstlerische ist das Mittel zum Aufwecken. Wenn das entwickelt wird, bringt es den Erziehenden als Menschen denjenigen näher, die er führen will.“[8]


 

[1] Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation, Pädagogischer Jugendkurs, Dreizehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 3. bis 15. Oktober 1922, GA 217, S. 156 – 169 [2] Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation, Pädagogischer Jugendkurs, Dreizehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 3. bis 15. Oktober 1922, GA 217

[3] ebd., S. 161 [4] Dazu schreibt Tomás Zdrazil: „Das „Vergehen“ der Schüler lag konkret in kleinen Diebstählen, Saufereien, im Experimentieren mit Injektionen, im Verbreiten von pornographischer Literatur u.a.., (..) Im Zusammenhang mit dieser Gruppe ist dann noch ein anderer Fall aufgedeckt worden: Diese Schüler hatten auch versucht einen anderen – auch problematischen, weil psychisch gestörten und suizidgefährdeten – Schüler zu hypnotisieren.“ Tomás Zdrazil, Freie Waldorfschule in Stuttgart 1919 – 1925, Stuttgart 2019, S. 372 [5] Rudolf Steiner, Allgemeine Menschenkunde, GA 293 [6] Rudolf Steiner, Geistige Wirkenskräfte im Zusammenleben von alter und junger Generation, Pädagogischer Jugendkurs, Dreizehn Vorträge, gehalten in Stuttgart vom 3. bis 15. Oktober 1922, GA 217, S. 164 [7] ebd., S. 160 [8] ebd., S. 162 Foto: RhondaK Native Florida Folk Artist / Unsplash




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