Eine Spurensuche
Es mag viele Gründe geben sich mit der Gründungsgeschichte des Bundes der Freien Waldorfschulen zu beschäftigen. Ausgangspunkt war für mich, dass ich eines Tages feststellte, darüber erstaunlich wenig zu wissen und dies, obwohl ich seit mehr als 30 Jahren mit dieser Institution auf unterschiedliche Weise in Verbindung stehe.
Da ich es in jeglicher Hinsicht für essenziell halte, die (eigene) Vergangenheit zu kennen und ggf. aufzuarbeiten, habe ich mich auf die Suche gemacht, welche Informationen zur Gründungsgeschichte des Bundes der Freien Waldorfschulen – zunächst im Internet – zu finden sind. Auf der Website des Bundes der Freien Waldorfschulen findet man zu dieser Frage folgenden kurzen Satz:
„Die deutschen Waldorfschulen haben sich unter der Bedrohung durch den Nationalsozialismus 1933 und dann erneut 1949 zum Bund der Freien Waldorfschulen e.V. mit dem Sitz in Stuttgart zusammen geschlossen.“1
Auf einer anderen Seite des Bundes der Freien Waldorfschulen wird 1946 als Jahr der Gründung des Bundes der Freien Waldorfschulen genannt.2 Auf Wikipedia findet man zur Gründungsgeschichte keinen Eintrag.
Es soll im Weiteren der Frage nachgegangen werden:
Wie sah die vom Bund angesprochene „Bedrohung durch den Nationalsozialismus“ für die deutschen Waldorfschulen aus und wie wurde in der damaligen Zeit darauf reagiert?
Dabei wird schwerpunktmäßig der Gründungsimpuls des Bundes sowie dessen Tätigkeit und Entwicklung zwischen 1933 und 1936 betrachtet, weniger die Historie einzelner Waldorfschulen in der damaligen Zeit3. Als Quellen für diesen Beitrag dienen im Wesentlichen die zwei im Jahre 2019 erschienenen Bücher von Peter Selg und Nana Göbel sowie zwei Beiträge derselben Autoren in der Zeitschrift „Erziehungskunst“.4
Vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialsten im März 1933 bis zum Jahr 1936 arbeiteten in Deutschland acht Waldorfschulen; bis 1933 existierte kein Bund der Waldorfschulen, jede Schule war autonom tätig, es gab lediglich informelle Kontakte untereinander. Von Elisabeth Klein, Lehrerin an der Dresdner Waldorfschule, wurde allerdings schon im März 1933 die Auffassung vertreten, dass eine gemeinsame Informationspolitik anzustreben und dazu ein zentraler Zusammenschluss aller Waldorfschulen gegründet werden sollte, da mit einer Zentralisierung des Bildungssystems zu rechnen war.5
Anfang Mai 1933 wurden die Waldorfschulen aufgefordert, in den Nationalsozialistischen Lehrerbund (NLSB) einzutreten, andernfalls könnten sie nicht weiter als Privatschulen tätig sein.6 Daraufhin traf man sich am 10. Mai 1933 in der Berliner Wohnung der Kolleginnen Anni Heuser und Inez Arnold - bekannt geworden ist dieses Treffen als „Sofagespräch“7. Anwesend waren als Vertreter der Schulen Christoph Boy (Stuttgart), René Maikowski (Hannover) und Ernst Weißert (Berlin)8, die an jenem Abend die Gründung des „Reichsverband der Waldorfschulen“ beschlossen. Man hoffte als Reichsverband dem NLSB „korporativ“ beitreten zu können. Die Idee einer solchen Mitgliedschaft wurde weiter verfolgt, indem sich Vertreter der Waldorfschulen Berlin und Stuttgart am 3. Juli 1933 zu Gesprächen mit dem Gründer des nationalsozialistischen Lehrerbundes, Hans Schemm, in Berlin trafen.
Bald darauf wurde die Aufnahme der acht Waldorfschulen in den „Reichsverband deutscher (freier) Unterrichts- und Erziehungsanstalten“, der eine Unterorganisation des NSLB war, bestätigt.9 Zuvor musste der Name von „Reichsverband der Waldorfschulen“ in „Bund der Waldorfschulen“ geändert werden. Der neu gegründete „Bund der Waldorfschulen“ war also ab 1933 – wie alle bereits vor 1933 existierenden Lehrerverbände10 – korporativ dem NSLB beigetreten.
„Die Waldorfschulen fügten sich der erzwungenen »Gleichschaltung« und bildeten den geforderten »Reichsverband der Waldorfschulen« (kurz darauf: »Bund der Waldorfschulen«), der als solcher in den »Nationalsozialistischen Lehrerbund« eintreten musste“11,
so Peter Selg.
Vor der Aufnahme in den NLSB musste allerdings noch der „Arier“- oder „Reinigungs“-Paragraph umgesetzt werden, der die Entfernung aller Juden aus den Kollegien der Privatschulen, also auch der Waldorfschulen, betraf. Über die Umsetzung dieses Paragraphen gab es unterschiedliche Positionen in den einzelnen Waldorfschulen, bis hin zur Frage der Selbstschließung. Schließlich „verließen“ die „betroffenen“ Kollegen die Schulen, um deren weitere Existenz nicht zu gefährden.
Die Schulen „trennten sich auf behördliche Anweisung – ebenso wie alle anderen Schulen – von ihren jüdischen Lehrern“12,
so Peter Selg.
Zwischen den einzelnen Kollegien der Waldorfschulen, aber auch zwischen der Berliner Schule und den Vertretern des Bundes der Waldorfschulen gab es unterschiedliche Auffassungen und Wege, mit dem Regime zu verhandeln. Der Berliner Waldorflehrer Ernst Weißert13, der bei der Gründung des Bundes anwesend gewesen war, und seine Kollegen stellten im Laufe der Zeit immer lautere Fragen an die politische Strategie der verhandelnden Kollegen aus dem Bund und gingen eigene Wege, denn sie glaubten nicht an das Wohlwollen des Nazi-Apparates, was sich im weiteren Verlauf als berechtigt herausstellte. Sie begannen, sich von den Versuchen zu distanzieren, doch noch Mittel und Wege zu finden, um eine Weiterexistenz der Waldorfschulen zu erreichen.14
Trotz der unermüdlichen Bemühungen durch René Maikowski (Hannover), der als Leiter des Bundes mit Entscheidungträgern des NS-Regimes verhandelte, wurde den acht Waldorfschulen (wie allen anderen Privatschulen) im März 1936 untersagt, neue Schüler aufzunehmen, was einem Entzug der wirtschaftlichen Grundlage und damit einer schleichenden Schließung der (Waldorf-)Schulen gleichkam.15
Die Rolle René Maikowski´s als Verhandlungsführer des Bundes der Waldorfschulen wurde auch nach der Zeit des Nationalsozialismus von verschiedenen Autoren kritisch beleuchtet, unter anderem wurde ihm Anbiederung an das System vorgeworfen. Nana Göbel schreibt dazu:
„In meinen eigenen Begegnungen mit René Maikowski in den 1970er Jahren lernte ich jemanden kennen, der sich sicher nicht anbiederte. Ich glaube eher, dass er ein solcher Waldorfenthusiast und gleichzeitig ein solcher Enthusiast des idealen Deutschtums war, dass er, die Widersprüche des nationalsozialistischen Systems ausnutzend, seine Kompromissbereitschaft weiter ausdehnte, als das im Rückblick und aus dem sicheren zeitlichen Abstand der nicht Handeln-Müssenden sinnvoll und opportun erscheint.“16
Als ebenfalls im März 1936 von den Lehrern an Privatschulen/Waldorfschulen die Vereidigung auf den Führer und ein schriftliches Treue-Gelöbnis auf Adolf Hitler verlangt wurde17, entschied sich das Kollegium der Waldorfschule Berlin für eine Selbstschließung, nicht aus wirtschaftlichen Gründen, sondern weil es das verlangte Gelöbnis als unvereinbar mit dem Kern der Waldorfpädagogik sowie der Anthroposophie ansah.18 Einzig die Waldorfschule Hamburg-Wandsbek schloss sich dieser Auffassung der Berliner Kollegen an.19 In den nächsten Jahren schlossen sich fünf weitere Waldorfschulen selbst (Hamburg-Altona, Hannover, Kassel, Breslau und Hamburg-Wandsbek).20 Zwei Schulen wurden durch die Nationalsozialisten geschlossen, 1938 die „Mutterschule“ in Stuttgart und als letzte die Waldorfschule in Dresden im Jahre 1941.
Zurückkommend auf die Frage nach dem Gründungsjahr des heutigen Bundes der Freien Waldorfschulen e.V. gibt die Nennung der Herausgeber der Zeitschrift „Erziehungskunst“ Hinweise: Die Zeitschrift entwickelte sich seit 1921 aus dem Stuttgarter „Mitteilungsblatt für die Mitglieder des Vereins Freie Waldorfschule (E.V.)“ und wurde von 1932 bis 1937 unter dem bis heute verwendeten Namen „Erziehungskunst“ durch die Stuttgarter Lehrerschaft herausgegeben.
Nach dem Krieg (1948) gaben die Waldorfschulen Deutschlands die Zeitschrift heraus. Ab 1950 wurde sie von dem am 12. November 194921 als Verein eingetragenen „Bunde der Waldorfschulen“22 herausgegeben, der zunächst seinen ursprünglichen Namen aus der Zeit des Nationalsozialismus beibehielt.
Ernst Weißert, der bei der Begründung des Bundes der Waldorfschulen 1933 mitgewirkt und sich 1936 stark für die Selbstschließung der Waldorfschulen eingesetzt hatte23, proklamierte bereits Ostern 1946 dessen Neugründung24, wohl in der Hoffnung auf diese Weise für innere Einheit und Bewahrung des Werkes Rudolf Steiners25 sorgen zu können, anders als er es während der Zeit des Nationalsozialismus erlebt hatte. Nach seinem Verständnis sollte der Bund der Freien Waldorfschulen eine „Gesamtkonferenz der deutschen Waldorflehrer“26 sein. Christoph Wiechert gibt unter Bezugnahme auf die offizielle Vereinsgründung 1949 als Grund für die Neugründung an:
„Der Ansturm der Schulgründungen macht eine übergreifende Koordination notwendig.“27
Seit 1963 nennt sich der Herausgeber der „Erziehungskunst“ „Bund der Freien Waldorfschulen“.28
Es sollte beschrieben werden, welche Informationen mir über die Gründungshistorie des Bundes der Freien Waldorfschulen zugänglich waren. Bewusst wurde weitestgehend auf Schlussfolgerungen und Urteile verzichtet, um diese dem Leser selbst zu überlassen.
Literaturhinweise und Anmerkungen
1 https://www.waldorfschule.de/ueber-uns/bund-der-freien-waldorfschulen/ , abgerufen 10.08.2024
2 https://www.forschung-waldorf.de/bund-der-freien-waldorfschulen/, abgerufen 10.08.2024
3 Zu diesem Thema siehe das Buch von Uwe Werner, Waldorfschulen im nationalsozialistischen Deutschland, Stuttgart 2017
4 Peter Selg, Erzwungene Schliessung, Die Ansprachen der Stuttgarter Lehrer zum Ende der Waldorfschule im deutschen Faschismus (1938), 2019, Verlag des Ita Wegmann Instituts
Nana Göbel, Die Waldorfschule und ihre Menschen. Weltweit: Geschichte und Geschichten / 1919 bis 2019, Stuttgart 2019
Peter Selg, Anthroposophie und Rechtsextremismus, Zum Verhalten der Waldorfschulen im dritten Reich, Erziehungskunst 11/2020, S. 52 ff.
Nana Göbel, Ernst Weissert – Baumeister der Waldorfschulbewegung, Zeitschrift Erziehungskunst, 5/6 2020, S. 74 ff.
5 Nana Göbel, Die Waldorfschule und ihre Menschen. A.a.O., S. 139
6 Peter Selg, Erzwungene Schliessung, A.a.O., S. 106
8 Nana Göbel, Die Waldorfschule und ihre Menschen. A.a.O., S.130
9 ebd., S. 133 f.
13 zu Erich Weißert s.a.: Antje Bek, Ernst Weißert – zu Besuch bei Andreas Weißert, Zeitschrift erWACHSEN&WERDEN 04/2024, S. 47
15 Peter Selg, Erzwungene Schliessung, A.a.O., S. 154
16 Nana Göbel, Die Waldorfschule und ihre Menschen. Weltweit. A.a.O., S.138
17 Peter Selg, Erzwungene Schliessung. A.a.O., S. 154
18 So schrieb Weißert, nachdem sich die Berliner Schule geschlossen hatte, am 26.8.1937 an die Kollegen in Stuttgart, dass dies nicht aus einer wirtschaftlichen Notlage heraus geschehen war, sondern sie sich aus inneren Gründen zu diesem Schritt verpflichtet fühlten, „…um wahr zu bleiben dem Werk Rudolf Steiners gegenüber.“, zitiert nach: Peter Selg, Erzwungene Schliessung, A.a.O., S. 155
19 Ernst Weißert berichtete von einem Treffen mit Abgeordneten der anderen Schulen in Stuttgart, bei dem er und das Berliner Kollegium ein einheitliches Vorgehen angestrebt hatten. „Wir sahen diesen staatlichen Eingriff [des erzwungenen „Treueeides“] als mit der inneren Verpflichtung unserer Schule gegenüber Rudolf Steiner unvereinbar an. (…) Nur noch das Wandsbeker Kollegium schloss sich unserer Auffassung an (…)“, s. ebd.
20 ebd., S. 154
21 S. den entsprechenden Vereinsregisterauszug: Vereinsregister Stuttgart VR 354: Historischer Abdruck, https://www.handelsregister.de
22 Zeitschrift „Erziehungskunst“, Jahrgang 1950, Heft 2
23 S. Anmerkung 19
24 Nana Göbel: Weißert, Ernst https://dokumentationen.kulturimpuls.org/biografien/763
25 S. Anmerkung 18
26 Ernst Weißert: Von den Motiven und Lebensphasen der Schulbewegung, Erziehungskunst 8/9, 1969, S. 320
27 Christoph Wiechert: Dr. Schwebsch, Erich https://dokumentationen.kulturimpuls.org/biografien/660
28 Zeitschrift „Erziehungskunst“, Jahrgang 1963, Heft 1, Innenseite
Dieser Beitrag erschien zuerst im Online-Magazin erWACHSEN&WERDEN 10/24, Oktober 2024
Foto: Joanna Kosinska/Unsplash
Herzlichen Dank für diesen erhellenden Artikel zur Entstehung des „Bundes“. Ich fange an, das Eine oder Andere zu verstehen…